Russland:Ein unmöglicher Auftrag

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Nach dem deprimierenden Ausscheiden ergießt sich über den Fußballern der Spott. In zwei Jahren soll nun aus einer chronisch überalterten Mannschaft ein würdiger WM-Gastgeber werden.

Von Johannes Aumüller

Natürlich lassen sich nun auch in Russland ein paar Namen finden, die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft machen. Dschamaldin Chodschanijasow ist einer von ihnen, Ramil Scheidajew ein anderer, auch Alexej Gasilin oder Rifat Schemaletdinow, und diese Reihe ließ sich noch durch einige Protagonisten ergänzen, die vor gar nicht langer Zeit Bravouröses geleistet haben. Es ist jetzt drei Jahre er, dass Russlands U 17 den EM-Titel gewann, und es ist jetzt ein Jahr her, dass Russlands U 19 bis ins EM-Finale kam und dort gegen Spanien verlor. Schon in diversen Ländern ist aus einem solchen Stamm offenkundig hoch veranlagter Nachwuchskicker ein überdurchschnittliches A-Team herangereift - warum soll das nicht auch in Russland möglich sein?

An solche Hoffnungen klammern sie sich jetzt zwischen Moskau und Wladiwostok, denn der nationale Fußball ist in einer üblen Lage. Am Montagabend schied die Sbornaja mit dem 0:3 gegen Wales völlig verdient aus der EM aus - als unterm Strich vielleicht sogar schlechteste Mannschaft des 24er-Feldes. Spielerisch war sie meist limitiert, der Auftritt arg behäbig, das Team im Allgemeinen und die Defensive im Speziellen chronisch überaltert und zu langsam. Die Iswestija spottete über eine "Parodie auf den Fußball", und der Sport-Express betitelte die Elf in Anspielung auf den Austragungsort als "Tu-Loser". Und das alles zwei Jahre vor der WM im eigenen Land, die doch nur die erhoffte große Show sein kann, wenn es auch sportlich läuft. Nur wenig Zeit bleibt Russland nun, um ohne ein einziges Qualifikations- oder sonstiges Pflichtspiel eine Mannschaft herbeizuzaubern, die sich vor dem Heim-Publikum achtbar schlagen kann.

Trainer Leonid Sluzki nahm zunächst mal mannhaft alle Schuld auf sich. "Ich kann mich nur bei den Fans entschuldigen. Wir waren in allen Bereichen schlecht. Es war mein Fehler", sagte er und deutete wie erwartet seinen Rückzug an. Er hat die Nationalelf nur interimsweise geführt und seinen Hauptjob bei ZSKA Moskau klugerweise nie aufgegeben. Die Trainerfrage ist nun eine der wichtigen Weichenstellungen. Eine typische Reaktion wäre zwar, nach einem bekannten internationalen Namen zu suchen und diesen mit viel Geld anzulocken. Andererseits sind die Erfahrungen mit gut dotierten Fachkräften aus dem Ausland in den vergangenen Jahren sehr unterschiedlich ausgefallen: Guus Hiddink (2006 - 2010) fanden alle großartig, Dick Advocaat (2010 - 2012) schon deutlich weniger großartig und Fabio Capello (2012 - 2015) so schlecht, dass bei der Nachfolgersuche die Devise lautete: Hauptsache, er besitzt einen russischen Pass. Andererseits haben die nationalen Fußballverantwortlichen in Leonid Sluzki dem eindeutig besten russischen Trainer der vergangenen Jahre das Amt übertragen, richtige Alternativen drängen sich auch auf dem heimischen Markt nicht auf. Deswegen ist auch noch nicht gänzlich ausgeschlossen, dass Sluzki weiter bleibt.

Aber egal wer die Mannschaft künftig anführt: Der nationale WM-Auftrag wird extrem schwer. In Frankreich waren - mit Ausnahme der verletzten und für die Spielkonzeption durchaus zentralen Mittelfeld-Akteure Igor Denissow und Alan Dsagojew - die aktuell besten russischen Profis dabei. Es ist die Frage, wo so schnell andere herkommen sollen.

Die erfolgreichen U-Kicker von 2013 und 2015 geben zwar ein wenig Anlass zur Hoffnung, sie sind dann alle 21, 22 Jahre alt - aber vielleicht kommt die WM für sie noch etwas zu früh. Während Talente in anderen Nationen in diesem Alter schon in Top-Klubs spielen, mühen sich die am höchsten gehandelten russischen Nachwuchskräfte noch weiter unten herum. Chodschanijasow etwa spielt gerade bei Aarhus in Dänemark, Schemaletdinow debütierte kürzlich ordentlich bei Lokomotive Moskau, Gasilin verbrachte das letzte Jahr in der Schalker Regionalliga-Reserve und Scheidajew bei Zenit Sankt Petersburg II. Aus dem U 19-Finale vor einem Jahr war in Frankreich nur einer dabei, der defensive Mittelfeld-Akteur Alexander Golowin, der dann noch sinnbildlich für das ganze Drama des Teams stand, als er gegen Wales für Kapitän Roman Schirokow aufs Feld kam und vergeblich einen Abnehmer für dessen Binde suchte (siehe Mitarbeiter des Tages). Auch dem Schlussmann des damaligen Jugend-Teams, Anton Mitrjuschkin, sagen sie in Russland eine ordentliche Zukunft voraus, aber im Tor haben sie in Gestalt von Igor Akinfejew, dessen Paraden am Montag eine höhere Niederlage verhinderten, ohnehin noch das geringste Problem.

Der Multi-Funktionär Witalij Mutko, der nun nicht nur als Sportminister den großen Dopingskandal, sondern auch als Präsident des Fußballverbandes das schwache Abschneiden der Sbornaja zu verantworten hat, kündigte für alle Fälle schon mal ein Umdenken in den Strukturen und Reformen an - was das bis 2018 bringen soll, ist sein großes Geheimnis. In der heimischen Liga versuchen sie durchaus, jungen russischen Akteuren Spielpraxis zu ermöglichen. Es gibt eine Regel, nach der höchstens sechs Ausländer auf dem Platz stehen dürfen, aber nach Meinung führender Kommentatoren schadet diese Regel manchen Nachwuchsspielern mehr als sie nützt, weil sie es so leichter in die Startelf schaffen.

Nicht nur Mutko erkennt nun, dass das Niveau in der Premjer-Liga im Kern zu niedrig ist, vor allem zu langsam und nicht laufintensiv genug. Schon vor ein paar Jahren reagierte die Szene erschrocken über eine Erhebung, nach der ein Akteur in der heimischen Liga ein Viertel bis ein Drittel weniger laufe als in den westeuropäischen Top-Klassen. Weil aber zugleich in Russlands politisiertem Fußball viel Geld im Spiel ist, Gehälter und Wohlfühl-Möglichkeiten hoch sind, zieht es kaum Kicker ins Ausland: Im russischen Kader bei dieser Europameisterschaft war der kurzfristig eingebürtige Schalker Roman Neustädter die einzige Ausnahme.

"Nach so einem Turnier wie diesem braucht man einen anderen Trainer", sagt Russlands Trainer Leonid Sluzki. (Foto: imago/ITAR-TASS)

Apropos Neustädter: Auch Einbürgerungen sind in Russland immer wieder ein Thema, um die Mannschaft zu verbessern. Das auch an Fußballerfolgen traditionsreiche Land würde zwar nie so weit gehen, dass es sich so konsequent eine Auswahl zusammencastet, wie es die Katarer mit Blick auf ihre Heim-WM 2022 tun. Aber an der einen oder anderen Stelle ist eine punktuelle Verstellung durchaus erwünscht. Neben Neustädter stand in Frankreich als Ersatztorwart auch schon der gebürtige Brasilianer Guilherme (Lokomotive Moskau) im Kader. Zudem könnte bald der Abwehrspieler Mario Fernandes von ZSKA den russischen Pass erhalten.

Doch neben Trainersuche, Talentaufbau und Einbürgerungsinitiativen bleibt den Russen noch ein Argument, wegen dem sie trotz aller Malaise auf eine gute Heim-Weltmeisterschaft hoffen dürfen. Denn es zieht sich quer durch viele große Turniere, dass ein Gastgeber dort - warum auch immer - besser abschneidet, als es seinen fußballerischen Kernfähigkeiten entspricht.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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