Paralympics:Mal Fisch, mal Fleisch

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Edina Müller gewann 2012 in London Gold im Rollstuhlbasketball. In Rio ist die 33-Jährige wieder Favoritin - diesmal im Kanu.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

In einem Restaurant am Ufer der Lagune Rodrigo de Freitas sitzen vier Deutsche und essen zu Mittag. Hähnchenschnitzel. Und weil der Fischreiher auf dem Mäuerchen so sehnsüchtig auf den gedeckten Tisch blickt, fliegt ab und zu mal ein Stückchen Huhn rüber. Der brasilianische Fischreiher freut sich. Die deutschen Mittagesser freuen sich auch.

Der Reihe nach sitzen da: Sandra Müller, die Bundestrainerin der paralympischen Kanuten, ihr Assistenzcoach Jürgen Hausmann, genannt "Atze" sowie die Parakanuten Ivo Kilian und Edina Müller. Klar, Fischreiher sollten eigentlich Fisch essen, da ist sich die fröhliche Runde einig. Andererseits muss Edina Müller an ein Buch denken, das sie mal gelesen hat. Darin ist der Erzähler bei einem Känguru zum Essen eingeladen. Es gibt Fischstäbchen, obwohl der Gast vorher ausdrücklich betont hat, dass er alles mag außer Fisch. Müller zitiert jetzt das Känguru: "Kannste ruhig essen, ist eh' Hähnchen. Fischmac, Schweineschnitzel, Rindergulasch, alles Hähnchen - außer Chicken Nuggets".

Der Reiher guckt, als ob er sich für neuere deutsche Literatur interessieren würde und nimmt noch einen Happen. Großes Gelächter.

Wenn man Edina Müller, 33, fragt, wie sie beim Kanurennsport gelandet ist, nachdem sie jahrelang eine erfolgreiche Rollstuhlbasketballerin war, dann sagt sie: "Man ist hier in einem Team drin, das macht Spaß." Beim Basketball machte es ihr eigentlich auch Spaß, aber nach der Goldmedaille 2012 in London hat es mit dem Team und mit dem Trainer "einfach nicht mehr gepasst". Sie hat sich dann ein wenig umgesehen in der Welt des Sports, sie versuchte es beim Tennis und beim Volleyball. Volleyballerin war sie schon vor jenem Tag im Alter von 16 Jahren gewesen, der ihr Leben veränderte.

Sie hatte damals Rückenschmerzen und ging zum Orthopäden. Der versuchte, einen Wirbel einzurenken, dabei beschädigte er das Rückenmark. Zwei Stunden später war Müller querschnittsgelähmt. Heute arbeitet sie als Sporttherapeutin in einer Hamburger Unfallklinik. Sie betreut Patienten, die gerade erfahren haben, dass sie den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen werden. Sie sagt ihnen dann: "Schau auf mich, man kann noch so vieles ausprobieren!" Ihr Versuch, zurück zum Volleyball zu gehen, scheiterte allerdings. "Das ist eher was für Amputierte, bei mir sind die Beine im Weg", stellte Müller bald fest. 2014 nahm sie ein Freund mit zu den Kanuten. Das kannte sie bis dahin "eher aus dem Wanderpaddelbereich".

Der Kanurennsport ist neu im paralympischen Programm. Edina Müller mag die Atmosphäre in diesem kleinen Kosmos. Von der Landseite nähert sich jetzt ein schwitzender Rumäne auf Carbon- Beinen. "Ah, der Julian", sagt Atze Hausmann. Julian Serban ist mehrfacher Welt- und Europameister, nach dem Training in der Mittagshitze von Rio sieht er hilfsbedürftig aus. Hausmann bietet ihm sein Bier an, das Serban in einem Zug leert. Dann setzt er sich wortlos an den Nebentisch, zündet sich eine Zigarette an und bestellt noch ein Bier. "Herrlich", findet Müller, die sich natürlich Saft bestellt hat.

Edina Müller kann viel erzählen über die paralympische Welt - bei der Verabschiedung nach Rio erfreute das auch Bundespräsident Joachim Gauck. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Am Anfang hatte sie im Rennkajak etwas Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, wegen ihrer Querschnittslähmung konnte sie den Wellengang von der Seite schwer ausgleichen. Ein halbes Jahr später gehörte sie auch in diesem Sport zur Weltspitze. Über die Sprintstrecke wurde sie seither deutsche Meisterin, Europameisterin und Weltmeisterin. Im Juni stellte sie einen neuen Weltrekord auf. Das macht sie zur Favoritin für die Rennen kommende Woche auf der Lagune, wo der Hähnchenreiher wohnt. Wie geht so was? "Die Oberkörperkraft vom Basketball hat schon geholfen", sagt Müller.

Bei Olympia wäre es trotzdem undenkbar, dass eine aus der Ballsporthalle spaziert, ins Kajak steigt und prompt wieder zu den Medaillenkandidaten gehört. Bei den Paralympics sind solche Quereinsteigergeschichten keine Seltenheit. Die ehemalige deutsche Schwimmerin Christiane Reppe startet diesmal im Handbiken. Der Tandem-Radler Kai Kruse gewann vor vier Jahren in London Silber im Rudern. Der brasilianische Segler Bruno Landgraf das Neves war vor seinem Autounfall Ersatztorhüter beim Fußball-Erstligisten FC São Paulo. Aus Sicht der Bundestrainerin Sandra Müller zeugen solche Sportbiografien von der erstaunlichen Flexibilität der behinderten Athleten. Von Menschen, die wissen, dass auch Dinge möglich sind, die unmöglich erscheinen.

Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass die Weltspitze in vielen paralympischen Disziplinen nicht allzu breit ist. Im Grunde habe Edina Müller in ihrer Kategorie nur eine ernsthafte Konkurrentin, räumt die Bundestrainerin ein: die viermalige Weltmeisterin Jeanette Chippington, 46, aus Großbritannien. Die hat 1996 in Atlanta zwei Goldmedaillen gewonnen - im Schwimmen.

© SZ vom 10.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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