Paralympics:Achtung vor Prothesen

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Gemeinsamer Sport von Behinderten und Nichtbehinderten ist ein großes Ziel. Aber viele Verbände zeigen wenig Interesse an Inklusion.

Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Ein Anruf genügt, schon stellen ihm die Veranstalter einen Stuhl in die Wechselzone. Den braucht Stefan Lösler nämlich, um seine Prothese anzulegen. Erst Schwimmen, dann Radfahren, schließlich Laufen. Oft ist Lösler, 31, bei Triathlon-Wettkämpfen der einzige Athlet mit einer Behinderung.

In seinem Verein, dem GC Nendorf, wurde da nie ein Unterschied gemacht. Auch die Deutsche Triathlon-Union und die Internationale Triathlon-Union legen Wert auf die Zusammenarbeit von olympischen und paralympischen Athleten. Deren Wettbewerbe finden in der Regel an denselben Orten statt. Sie profitieren von denselben Zuschauern, Trainern, freiwilligen Helfern. "Wir sind voll inklusiv", sagt der Softwareentwickler Stefan Löser stolz. "Wir werden mit offenen Armen empfangen". Bei den Paralympics in Rio ist Triathlon nun erstmals im Programm.

Inklusion: Viele tun sich schwer mit diesem Begriff. Gemeint ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Inklusion ist ein Gegenmodell zur Sonderbehandlung von behinderten Menschen, wie sie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts propagiert wurde. Vollkommene Inklusion: Im Leistungssport würde das die Fusion von Olympischen und Paralympischen Spielen bedeuten. Diese Idee bringen viele immer mal wieder ins Spiel, Politiker, Menschenrechtler, Interessengruppen. Dabei vernachlässigen sie nicht nur die schiere Größe einer Veranstaltung mit dann wohl 16 000 Teilnehmern. Sie verkennen auch, dass im Spitzensport das gemeinsame Fundament fehlt.

Der Triathlon ist eine Ausnahme, Kanu, Tischtennis oder Schießen sind andere. Aber die Welt des Fortschritts ist im Sport noch eher überschaubar.

2007 hatte das Internationale Paralympische Komitee den Beschluss gefasst, spätestens 2016 nicht mehr als Fachverband zu wirken. Der Plan: Behinderte und nichtbehinderte Athleten sollen in denselben Strukturen ihrer Sportarten gemeinsam aktiv sein. Doch noch heute muss das IPC in zehn von insgesamt 22 Sportarten die Weltmeisterschaften selbst ausrichten. Auch in den olympischen Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen - deren Weltverbände IAAF und Fina zeigen wenig Interesse an einer Horizonterweiterung für Sportler mit Behinderung.

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(Foto: Buda Mendes/Getty Images)

Der Moment, als die ersten Paralympischen Spiele Lateinamerikas offiziell beginnen: Clodoaldo Silva, brasilianischer Schwimmer, entzündet das Feuer im Maracana-Stadion - strömendem Regen zum Trotz.

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(Foto: Buda Mendes/Getty Images)

Der deutsche Fahnenträger Markus Rehm konnte bei der Eröffnungsfeier noch entspannt zuschauen,...

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(Foto: dpa)

... während der US-amerikanische Rollstuhlsportler Aaron "Wheelz" Fotheringham einen seiner spektakulären Sprünge zeigte.

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(Foto: Yasuyoshi Chiba/AFP)

Die Snowboarderin Amy Purdy tanzte mit einem Roboter.

"Es fehlt die Gesprächsbereitschaft und der Nachdruck", sagt Jörg Frischmann, der Geschäftsführer der Behindertensportabteilung bei Bayer Leverkusen. In Deutschland sind Musterzentren für Inklusion entstanden, zum Beispiel im Schwimmen in Berlin-Hohenschönhausen oder in der Leichtathletik in Leverkusen. Aber eine umfassende Gleichberechtigung gebe es nicht, sagt Frischmann: "Wir haben sogar Rückschritte gemacht."

Die Inklusionsdebatte wurde zuletzt stark auf Markus Rehm reduziert. Der unterschenkelamputierte Weitspringer kämpfte vergeblich für einen Start bei Olympia - Rehm konnte nicht zweifelsfrei beweisen, dass ihm seine Prothese gegenüber nichtbehinderten Springern keinen Vorteil verschafft. Bei vielen Unwissenden konnte der Eindruck entstehen, dass man sich für einen Weltrekord nur eine Prothese umschnallen müsse. Seither hat Frischmann bei Nachwuchswettbewerben auch Eltern erlebt, die ihre Kinder warnten: "Pass auf", sagten sie, "der Junge hat eine Prothese, der hat einen Vorteil." Ausnahmekönner wie Rehm aber seien aber nicht repräsentativ, sagt Frischmann. Die mediale Bewunderungskultur für Hightech- Prothesen könne sogar einen unbewussten Leistungsdruck auf Menschen mit frischen Amputationen ausüben.

"Lehrer und Trainer sollten mit Unterschiedlichkeit arbeiten können", sagt Thomas Abel, Professor für paralympischen Sport an der Sporthochschule Köln. "Daher müssen wir die Fachdidaktik von Anfang an auf Inklusion ausrichten." Nicht immer lassen etwa schwere Behinderungen ein gemeinsames Sportreiben zu, aufgrund von fehlender Barrierefreiheit in den Hallen oder unterschiedlichen Trainingsprogrammen. Doch auch dann könne man Gemeinsamkeiten betonen, findet Abel. In Köln werden künftige Sportlehrer auch mit Rollstuhlbasketball vertraut gemacht, einem Teamsport, bei dem auch Nichtbehinderte mitwirken können.

International setzen Großbritannien und Kanada den Standard, dort orientieren sich Trainerausbildung, Anti-Dopingkampf oder Prämienregeln im selben Verbandsnetzwerk an behinderten und nichtbehinderten Athleten. So hat sich im Sport ein respektvoller Umgang etabliert, den die Beteiligten auf ihren Lebensalltag übertragen. Beschleuniger dieser Entwicklung waren die Gastgeberrollen bei den Paralympics 2012 in London und 2010 in Vancouver. "Ein solches Ereignis wäre ein positiver Schub für alle Strukturen", sagt Ruedi Spitzli, Chef de Mission des Schweizer Paralympics-Teams. Die Bewerbung für die Winterspiele in Graubünden 2022 scheiterte früh am Willen der Bevölkerung. Vielleicht auch, weil in der Schweiz so gut wie niemand über die gesellschaftliche Bedeutung der Paralympics sprach. Spitzli: "Da wurden wir nicht wirklich gehört."

In Zeiten des skandalumwitterten Spitzensports könnten die Paralympics auf der Suche nach einem neuen Narrativ mehr als eine Fußnote sein. Ob Tourismuswirtschaft, altersgerechtes Wohnen oder eben ein inklusives Vereinswesen - auch in Deutschland hätte eine längere Bewerbungsphase für Olympia und Paralympics vernachlässigte Themen sicher voran gebracht. Für die Sommerspiele in Hamburg 2024 zogen die Organisatoren ein durchweg barrierefreies Olympisches Dorf in Erwägung, einen inklusiven Stadtteil von morgen. Das öffentliche Interesse: gering.

Wenn nun wieder jemand den hehren Wunsch formuliert, Olympische und Paralympische Spiele verschmelzen zu lassen, verweist die zwölfmalige Paralympics- Siegerin Verena Bentele auf die graue Realität. "Wir brauchen erst mal eine Graswurzeldebatte", sagt die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und hofft auf gemeinsame Erfahrungswerte: parallel stattfindende Weltcups oder Deutsche Meisterschaften, Talentcamps, Anti- Doping-Schulungen. Aus dem Deutschen Olympischen Sportbund ist dazu wenig Visionäres überliefert worden. IPC und IOC haben sich nach unterschiedlichen Bewertungen des russischen Staatsdopings gar voneinander entfernt. So wird es noch eine Weile dauern, bis das zusammen wächst, was unter den richtigen Umständen auch zusammengehört.

© SZ vom 09.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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