Olympia:Bronze für die Hochbegabten

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Für den Trostpreis erfolgreich aufgerafft: Deutschlands Handballer feiern Bronze. (Foto: AP)

Im Spiel um Platz drei reduzieren die deutschen Handballer ihre Schlafphasen und schlagen Polen 31:25. Es bleibt das Gefühl: In Rio wäre noch mehr drin gewesen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Am Ende ist es also Bronze geworden, die erste Olympiamedaille für deutsche Handballer nach Silber 2004 in Athen und 1984 in Los Angeles. Was will man mehr? Nun, die Bad Boys, wie man sie nennt, hätten natürlich mehr gewollt. Das war ihnen sogar im Jubel nach dem 31:25 im Medaillenspiel gegen Polen anzumerken. Sympathisch, flatterhaft, hungrig, nimmersatt, so sind sie halt. Die Ausbeute von Rio kann sich trotzdem sehen lassen. "Wir gehen jetzt mit einem Siegesgefühl, weil wir das letzte Spiel gewonnen haben", sagte der Magdeburger Rückraumriese Finn Lemke stellvertretend für den Rest.

Nach Meinung des für den Leistungssport zuständigen Vizepräsidenten Bob Hanning hat auch das Gefühl diese letzte Partie entschieden. "Es war ein klassisches Spiel um Platz drei", sagte Hanning: "Wer weniger enttäuscht ist, der gewinnt." Und enttäuscht waren sie natürlich alle nach dem denkbar knapp verlorenen Halbfinale gegen Frankreich (28:29). Für Außenstehende ist es schwer vorstellbar, wie hart es ist, sich nach so einem Rückschlag noch einmal aufzuraffen, um wenigstens den Trostpreis mitzunehmen - mit einer der größten Enttäuschungen der Karriere im Kopf und sieben Turnierspielen in den Armen.

Das einzig Gute an dieser Ausganglage war aus deutscher Sicht: Den Polen ging es ebenso. Sie hatten ihr Halbfinale gegen den späteren Olympiasieger Dänemark (28:26 im Finale über Frankreich) sogar erst in der Verlängerung verloren, ebenfalls 28:29. "Der Kotzfaktor dürfte etwa gleich gewesen sein", schätzte ein Funktionär des Deutschen Handball-Bundes auf dem Weg in die Halle. Der Schlachtplan der Deutschen für das Spiel um Bronze sah vor, möglichst schnell mit ein paar Toren in Führung zu gehen, um sich der Enttäuschung vom Frankreich-Spiel zu entledigen. Es begann aber mit einem Treffer für Polen. Der auf einem Auge erblindete Karol Bielecki - am Ende vor dem Dänen Mikkel Hansen (54) mit 55 Treffern der beste Werfer des Turniers - verwandelte aus sieben Metern. Der erste Versuch der Deutschen zischte dagegen am Tor vorbei. Ein Blitzauftakt, der den Gegner einschüchtert, sieht anders aus. Dass die Europameister dennoch schnell ins Spiel fanden, war dem Kieler Torhüter Andreas Wolff zu danken, der im Halbfinale nicht den besten Tag erwischt hatte. Trainer Sigurdsson zog ihn trotzdem dem Berliner Silvio Heinevetter vor. Wolff rechtfertigte das Vertrauen mit zwei starken Paraden, nach der dritten reckte er erstmals die Faust in die Luft. Noch Fragen?, sollte das wohl heißen. Später sagte er: "Niederlagen prägen den Charakter."

Für den dritten Strafwurf von Bielecki schickte Sigurdsson nach knapp 20 Minuten ein einziges Mal Heinevetter aufs Feld, auch das funktionierte. Es war Bieleckis erster Fehlwurf an diesem Tag. Und das wirkte wie ein Zeichen dessen, was noch kommen würde. Wenig später setzten sich die Deutschen ab. "Letztlich waren die Polen heute chancenlos", fand Hanning.

Im Gegensatz zum Gegner, der von seinem einäugigen Superhelden Bielecki abhängig ist, kann bei den unberechenbaren Deutschen jederzeit jeder treffen. Diesmal kümmerten sich neben dem gewohnt starken Uwe Gensheimer (sechs Treffer) vor allem der Kieler Kreisläufer Patrick Wiencek (fünf) und Rechtsaußen Tobias Reichmann (sieben) darum. Reichmann kennt den polnischen Schlüsselspieler Bielecki aus seinem Verein KS Kielce. Am Ende überragte der junge Deutsche den alten Polen. Mit vier Treffern Vorsprung ging die DHB-Auswahl in die Pause. Damit war die Müffellaune nachhaltig verflogen.

Schwer am Schimpfen war vor allem der zweimalige Welthandballer Talant Duschebajew, der Coach der Polen. Auch der musste bald mitbekommen haben: Dieser Gegner aus heranwachsenden Hochbegabten ist so gut, dass er sich eigentlich nur selbst schlagen kann. Alles hängt bei diesen Deutschen von der Dosierung ihrer Schlafphasen ab. Sie starten meistens schlecht, wachen auf, pennen wieder ein bisschen und kommen unwiderstehlich zurück. In diesem Bronzespiel waren die Deutschen die aufgewecktere von zwei müden Mannschaften. Mitte der zweiten Hälfte, als Wolff nach einer krakenhaften Parade erneut die Gewinnerfaust zum Gruße reckte, war das Spiel im Prinzip entschieden. Ein letztes Sekundenschläfchen vier Minuten vor der Schlusssirene beendete Wiencek mit seinem fünften Treffer.

Vor zwei Jahren noch am Boden

Vor knapp zwei Jahren lag der deutsche Handball praktisch am Boden. Lange sah es so aus, als ob sich die DHB-Auswahl nicht einmal für Rio qualifizieren würde. Aus dem Nichts brachte sie es im laufenden Kalenderjahr zu EM-Titel und Olympia-Bronze - das zeigt, welches Potenzial in dieser Mannschaft steckt. Hanning, der den Olympiasieg 2020 in Tokio zum Fernziel ausgegeben hat, bilanzierte fürs Erste: "Mission erfüllt, Weltspitze bestätigt."

Dieser deutschen Mannschaft gehört ohne Zweifel die Zukunft. Von der Fahrt nach Rio bleibt aber auch das dumme Gefühl zurück: Da wäre sogar schon in der Gegenwart mehr drin gewesen.

© SZ vom 22.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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