Nordirland:Vierklang für Romantiker

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Tor per Kopf: Gareth McAuley. (Foto: Michael Steele/Getty Images)

Mit schlichtem Fußball setzt der Außenseiter große Gefühle frei. Ein Unentschieden gegen Deutschland würde das Achtelfinale noch nicht garantieren, aber sehr viel wahrscheinlicher machen.

Nachdem auf Gareth McAuleys Körper die Hagelkörner von Lyon eingeschlagen hatten, nachdem er sich in unzählige Zweikämpfe und Kopfballduelle gegen verzweifelte ukrainische Stürmer geschmissen und nachdem er das erste Tor für Nordirland bei einer Europameisterschaft überhaupt geköpfelt hatte, da sprach McAuley über die großen Gefühle des Fußballs: "Manchmal", sagte der nordirische Abwehrspieler, "ist Fußball auch ein romantisches Spiel. Manchmal kommen die Underdogs durch."

Nordirland ist ja zusammen mit Island und Albanien der kleinste Kleine bei diesem Turnier in Frankreich, und nach dem Tor in der 96. Minute von Niall McGinn zum 2:0-Endstand gegen die Ukraine hat diese kleine Mannschaft mit den lauten Fans nun gegen Deutschland am kommenden Dienstag eine reelle Chance, länger als nur drei Spiele dabei zu sein. "Dies ist ein stolzer Tag. Das war eine ganz starke Reaktion meiner Spieler auf unsere Auftaktniederlage gegen Polen", sagte Trainer Michael O'Neill.

Wie die Nordiren Weltmeister Deutschland packen wollen, das sah man bereits gegen die Ukraine. Sie beschränken sich auf das, was sie können: rennen, Zweikämpfe, Flanken und Kopfbälle. Gegen Deutschland könnten aus diesem Vierklang des britischen Fußballs die Flanken und die Kopfbälle sogar wegfallen - ein Tor ist ja nicht zwingend nötig. Fünf Kilometer mehr als die Ukrainer liefen die Nordiren, brachten aber nur 131 Pässe insgesamt unfallfrei zum Mitspieler. Zum Vergleich: Allein Toni Kroos spielte gegen Polen 102 Pässe, das sind quasi zwei verschiedene Sportarten.

Romantisch ist dieser simple Fußball hauptsächlich wegen der nordirischen Fans, es gibt Videos aus Belfast vom entscheidenden Tor zum 2:0 und dem folgenden Abpfiff. Wo der Jubel normalerweise nach Sekunden aufhört, geht er in der grün-weißen Masse einfach weiter. Tausende singen das Neil-Diamond-Lied "Sweet Caroline", die Lieblingshymne der nordirischen Fans, im Augenblick vor allem die Zeile "Good times never seemed so good" - gute Zeiten haben sich noch nie so gut angefühlt. Das "so good" schmettern sie heraus, als hätten sie gerade schon die EM gewonnen.

Es war ja auch der erste Sieg bei einem großen Turnier seit der WM 1982. Ein anderes Lied hat die Zeile: "Wir sind nicht Brasilien. Wir sind Nordirland. Aber für mich ist es das gleiche." Die Fans wissen schon sehr genau, dass das keine große Fußballkunst ist, was ihre Nationalmannschaft, die sich größtenteils aus unteren britischen Ligen rekrutiert, da anbietet. Aber natürlich ist es ihnen völlig egal. Torschütze McAuley wechselte etwa erst mit 24 Jahren in die vierte englische Liga, weil er gerne Profifußballer werden wollte. Er hat sich bis in die Premier League hochgespielt, aber jetzt ist er 36 Jahre alt, kein Spieler für Übersteiger und Hackentricks. Aber eben für Kopfbälle.

"Nationale Helden, Geschichtsschreiber, Legenden: Ein verwegenes Nordirland fegt die Ukraine vom Platz", titelte zum Beispiel der Belfast Telegraph. Für Zurückhaltung ist in der Stadt, deren Flughafen - der George Best Airport - nach einem Fußballer benannt ist, kein Platz mehr. "Wir wollten immer mit einer realistischen Chance in das letzte Spiel gehen. Nun ist es so gekommen", sagte Coach O'Neill. Dritter der Gruppe C sind die Nordiren sicher, bei Punktgleichheit zählt der direkte Vergleich, die Ukraine ist somit sicher ausgeschieden.

Um im Achtelfinale dabei zu sein, muss Nordirland aber mindestens unter die vier besten Gruppendritten kommen. Ein Unentschieden gegen Deutschland würde das nicht garantieren, aber viel wahrscheinlicher machen.

© SZ vom 18.06.2016 / SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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