Mexiko:Unreif und schwer erziehbar

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Nur wenige Länder waren so oft bei einer WM-Endrunde wie Mexiko. Meist aber war schon im Achtelfinale Schluss. Dieses Trauma soll überwunden werden.

Von Boris Herrmann

Ganz egal, wen man fragt in Mexiko, niemand kann sich daran erinnern, dass die Nationalmannschaft jemals auf diese Weise zu einer WM verabschiedet wurde: mit Pfiffen, mit Schimpfwörtern, die man lieber nicht wiederholt, mit fliegenden Bierbechern. 80 000 Zuschauer im Aztekenstadion skandierten minutenlang "Fuera Osorio!" (Osorio raus!). Juan Carlos Osorio, das ist der kolumbianische Trainer der mexikanischen Auswahl. Ein Mann, der bei Berichterstattern und Fans gleichermaßen unbeliebt ist, und dem sie wahlweise einen Hörschaden oder Realitätsverweigerung im Endstadium attestierten, als er behauptete, von den Verwünschungen der 80 000 überhaupt nichts mitbekommen zu haben. "Wir haben tolle Anhänger, die ihre Nationalelf zu einhundert Prozent unterstützen", sagte er. Allgemeines Gelächter.

Dieses Spiel im Aztekenstadion war als großes Abschiedsfest angekündigt worden, aber abgesehen von Osorio wollte sich niemand darüber freuen, dass die Mexikaner es 1:0 gewonnen hatten. Die Gäste aus Schottland waren mit einer B-Elf angetreten, mit "einer Karikatur von einem Gegner", wie die Zeitung Excelsior lästerte. Und dass sich Mexiko gegen diese schottischen Karikaturisten derart abmühte, frei von Spielwitz und Inspiration, hat einstweilen das ganze Land desillusioniert.

Als überraschende DFB-Pokal-Sieger zur WM: Carlos Salcedo und Marco Fabián (rechts) von Eintracht Frankfurt nach dem 3:1 gegen den FC Bayern am 19. Mai in Berlin. (Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Die Mexikaner träumen ja seit Jahrzehnten davon, endlich einmal eine WM zu spielen, die ihrer würdig ist. Sie sind schließlich eine der größten Fußballnationen der Welt, haben die finanzstärkste Liga in Lateinamerika und nehmen in Russland zum 16. Mal an einer Endrunde teil, lediglich Brasilien, Deutschland, Italien und Argentinien waren öfter dabei. Die größten, nun ja, Erfolge sind dabei aber die beiden Viertelfinalteilnahmen als WM-Gastgeber 1970 und 1986 geblieben. Gleichzeitig hält Mexiko einen Weltrekord, der sich längst zu einem nationalen Trauma entwickelt hat: Kein Land schied häufiger im Achtelfinale aus, zuletzt sechs Mal hintereinander. Das Mindeste, was die Fans von der Weltmeisterschaft 2018 erwarten, ist deshalb "el quinto partido", ein fünftes Spiel, das Viertelfinale also.

Was sich aber in der Nacht und an dem Tag nach dem verkorksten Schottland-Test ereignete, hat den Glauben daran weiter erschüttert: eine - von Paparazzi handgestoppte - siebzehnstündige Party, die wohl anlässlich des Geburtstags von Stürmer Chicharito in einer Luxuswohnung in Mexiko-Stadt stattfand. Nach Angaben Chicharitos war das gesamte Team dabei, fotografiert und vom Boulevard vorgeführt wurden aber nur acht Spieler, darunter Carlos Salcedo und Marco Fabián, die beiden Profis von Eintracht Frankfurt, Torhüter Guillermo Ochoa sowie der Leistungsträger Héctor Herrera vom FC Porto. Ob tatsächlich auch jene 30 Prostituierten mit im Getümmel waren, wie jetzt weltweit behauptet wird? Mehrere Beteiligte dementieren das. Fest steht, dass Trainer Osorio nun auch noch eine Orgiendebatte an der Backe hat, die ihm gerade noch fehlte. Sein Trupp galt auch zuvor schon als unreif und schwer erziehbar. Osorio selbst steht im Verdacht, keinerlei Autorität zu besitzen. Vor allem deshalb hat er wohl den 39-jährigen Rafael Márquez wieder als Kapitän nominiert, obwohl der seine Vereinskarriere bereits beendet hat und außerdem von US-Ermittlern beschuldigt wird, am internationalen Drogenhandel beteiligt zu sein. Márquez, für den es die fünfte WM ist, gilt trotz allem als die einzige unantastbare Führungsfigur. Dass der Kapitän und sein Vize Andrés Guardado offenbar die umstrittene Party organisiert hatten, bislang in den Medien aber ungeschoren davonkamen, zeugt womöglich von einem tiefen Riss innerhalb des Kaders.

Mexikos Weg

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(Foto: N/A)

Fast so unbeschwert wie die unbesiegte DFB-Auswahl spazierte "El Tri" durch die Qualifikation. Gerade mal eine Niederlage leisteten sich die Mexikaner: am letzten Spieltag gegen Honduras. Da stand jedoch längst fest, dass Mexiko als stärkstes Team Mittelamerikas nach Russland reisen wird.

Natürlich haben sie in Mexiko mitbekommen, dass auch bei ihrem ersten Gruppengegner Deutschland nicht alles rund läuft in der WM-Vorbereitung. Trotzdem darf man davon ausgehen, dass Juan Carlos Osorio, 57, ein glücklicher Mann wäre, wenn er nur die Sorgen von Joachim Löw hätte. Einer der Hauptvorwürfe an den Kolumbianer ist, dass er es auch nach drei Jahren als Nationalcoach noch nicht geschafft hat, so etwas Ähnliches wie einen Spielstil zu entwickeln oder eine Stammelf aufzubauen. Er sei unentschlossen und nervös, damit stecke er seine Spieler an. Mexiko reise mit einem "Wrack von einem Team" zur WM, schimpfte die Zeitung El Universal.

Dabei stehen so viele europaerfahrene Profis wie noch nie in diesem Kader. Und neben den beiden DFB-Pokalsiegern aus Frankfurt haben auch Herrera, Diego Reyes und Jesús Corona (alle FC Porto) sowie Hirving Lozano (Eindhoven) gerade nationale Titel gewonnen. In den jüngsten Trainingseinheiten deutete trotzdem einiges darauf hin, dass der Fußballrentner Rafael Márquez die strategische Hauptrolle im defensiven Mittelfeld übernehmen könnte: als eine Art Quarterback, der ohne viel zu laufen mit langen, präzisen Pässen das Spiel aufbauen soll. Márquez und der liebe Gott, das sind die letzten beiden, denen die Mexikaner vertrauen.

© SZ vom 14.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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