Leverkusen vor dem Spiel gegen Stuttgart:Ohne Schwung und Schusskraft

Lesezeit: 3 min

Leverkusens Stürmer Stefan Kießling (Foto: dpa)

Stefan Kießling wirkt seit den Debatten um sein "Phantom-Tor" gehemmt. Das belastet das ganze Team von Bayer Leverkusen. In dieser Lage kann eigentlich nichts Besseres passieren, als dass die Spielplaner der DFL den VfB Stuttgart vorbeischicken.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Die Spuren der Krise sind in Leverkusen auch für geübte Fährtenleser nicht auszumachen. Beim letzten publikumsoffenen Training vor der Begegnung mit dem VfB Stuttgart am Samstag in der heimischen Arena befinden sich exakt sechs Personen auf der Besucherplattform, keine einzige Kamera hält für die Welt fest, wie sich die Belegschaft von Bayer 04 wieder in Form bringt, niemand stellt dem Trainer nach der Arbeit gemeine Fragen.

Sami Hyypiä leitet stattdessen eine Übungsstunde, die nicht zu erkennen gibt, dass er nach drei Bundesliga-Niederlagen hintereinander eine verschärfte Belehrung für angebracht hielte. Ein bisschen Torschusstraining, ein lockeres Durcheinander, am Ende sieht das Ganze aus wie Zeitvertreib. Der Münchner Sportvorstand Matthias Sammer würde wahrscheinlich verrückt werden an diesem sachten Leverkusener Krisenmanagement.

"Wir sind nicht innerhalb von ein paar Wochen eine schlechte Mannschaft geworden", erklärt Hyypiä am Freitag, während Geschäftsführer Michael Schade kühn kombiniert, dass der Erhalt des zweiten Tabellenplatzes nach drei verlorenen Spielen "doch zeigt, welche ungeheure Qualität vorher abgeliefert wurde". Es ist aber nicht so, dass der finnische Trainer zur Beschönigung neigt. Wenn er sagt, dass er keinen Grund sieht, "Panik zu machen und unruhig zu werden", dann meint er das auch so.

Nicht in Lieblingsverfassung

Hyypiä räumt ja andererseits auch ein, dass es da durchaus etwas gibt, was ihn besorgt. Sein Torjäger Stefan Kießling gibt ihm zu denken. "Er braucht vielleicht einen freieren Kopf, er macht sich zu viele Gedanken. Er will zu viel und macht es dann zu kompliziert", befindet Hyypiä und ruft die Mitspieler dazu auf, dem Mittelstürmer zu helfen, "damit er die Form aus den letzten zwei Jahren zurückbekommt". Wenn man unbedingt will, kann man das für einen dramatischen Appell halten.

In dieser Lebenslage kann Kießling eigentlich nichts Besseres passieren, als dass die Spielplaner der DFL den VfB Stuttgart vorbeischicken. Für Kießling ist der VfB, was für seinen Schalker Torjägerkollegen Huntelaar ganz offensichtlich der Hamburger SV ist. Gegen Stuttgart trifft Kießling aus Prinzip: Zwölf Tore hat er in den jüngsten neun Spielen gegen den VfB erzielt. Aber diesmal begegnet er dem Lieblingsgegner nicht in der Lieblingsverfassung.

Ein Grund dafür ist unter anderem das teuflische Internet. Kaum hatte er vor ein paar Tagen seine persönliche Facebook-Seite wieder freigeschaltet, kehrten die bösen Geister zurück, die ihm schon nach seinem Pseudo-Tor in Hoffenheim im Oktober 2013 zugesetzt hatten.

All die verstörenden Erfahrungen, die er im Herbst machen musste - die Debatte um seine Ehre als Sportsmann, das Verfahren vor dem Sportgericht, die anonymen Beschimpfungen im Netz, bis er seinen Auftritt sperrte - sind nun wieder präsent. "Ich will das eigentlich gar nicht mehr ansprechen", sagte Kießling nach dem Training am Donnerstag gesagt, "aber man weiß ja, an wem das alles abgeprallt ist, die Geschichte damals." Und wenn er auch nicht über das Problem sprechen will ("es ist ein Fehler, jetzt wieder darüber zu reden"), so ist er doch viel zu ehrlich und zu aufrichtig, um es einfach zu leugnen.

"Am besten ist es, wieder den Knoten platzen zu lassen"

Kießling ist zudem auch viel zu feinfühlig, um die Kritiker, die ihm in grober Beschränkung Lug und Betrug vorwerfen, zu ignorieren. Nach dem Vorfall in Hoffenheim schoss er zwar noch drei Tore, aber zum Jahresende erlahmten Schwung und Schusskraft - und verdächtigerweise begann nun auch der komplette Spielbetrieb bei Bayer 04 zu erlahmen. Beim 2:3 verlorenen Rückrundenstart in Freiburg, am Tag seines 30. Geburtstages, wechselte ihn Hyypiä nach 70 Minuten aus.

Der Verein hat auf diese Nöte keine Antwort. Kießling gehört zu den entscheidenden Darstellern des sportlichen Aufschwungs, der Bayer sogar an Dortmund vorbeibefördert hat, und so unverwechselbar sein extrem arbeitsreiches Spiel ist, so unersetzlich ist er auch in seiner Bedeutung fürs Team. Eren Derdiyok, als Stellvertreter vorgesehen, hat auch bei seinem zweiten Engagement bisher nicht nachweisen können, dass er eine Alternative sein könnte, es bleibt ein Rätsel, warum so viel Talent so wenig Wirkung hervorbringt.

Bayer hat sich zwar auf den letzten Metern der Transferperiode noch einen Neuen geleistet - der Mexikaner Andres Guardado, der die linke Abwehrseite stärken soll, wurde aus Valencia ausgeliehen -, aber nach einer Alternative für den melancholischen Stürmer hat man nicht gefahndet. Er soll das als Vertrauensbeweis verstehen, aber derzeit weiß Kießling nicht mal, ob er sich selbst vertrauen kann. "Am besten ist es, wieder den Knoten platzen zu lassen", sagt er.

© SZ vom 01.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: