Kolumbien:Verlorener Sohn

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Gefragte Ballfertigkeit: Kolumbiens Juan Quintero. (Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Er galt fast schon als verschollen, wollte eine Musikkarriere starten, wurde wegen seiner Figur ein "Gemüsehändler" genannt. Doch in Russland überrascht Kolumbiens Mittelfeldspieler Juan Quintero mit Instinktfußball.

Von Javier Cáceres, Samara

José Pékerman ist ein Mann mit Furchen im Gesicht, die in Stein gemeißelt zu sein scheinen, und die ihm die Aura eines Mönchs verleihen, dessen Züge nicht zu interpretieren sind. Nach dem letzten Spiel der Kolumbianer gegen Senegal in Samara jedoch bestand kein Zweifel daran, dass sich die Oberfläche seines Gesichtes noch einmal verändert hatte: Die Sorgenfalten des kolumbianischen Trainers wurden tiefer. "Ich bin sehr in Sorge um James. Diese Situation ist für die Mannschaft sehr hart", sagte Pékerman über den Profi des FC Bayern. Am Montag stand immer noch nicht endgültig fest, ob James am Dienstag in Moskau gegen England spielen können würde. Eine kleine Hoffnung bestand, seit die medizinische Abteilung die Blessur der Nummer 10 der Kolumbianer als ein Ödem im Wadenmuskel identifiziert hatte. Doch so oder so richteten sich die Augen auf Juan Fernando Quintero, genannt Juanfer, der in Russland eine unwahrscheinliche Renaissance perfektioniert. Mit 25 Jahren.

Quintero galt eigentlich für den Fußball als verloren. Als er vor einem halben Jahr vom FC Porto an den argentinischen Klub River Plate ausgeliehen wurde, begrüßte ihn ein Journalist mit den Worten, er habe "den Körper eines Gemüsehändlers, oder eines Metzgers, der jeden Tag grillt und 24 Stunden am Tag Wein trinkt."

Quintero schwieg, debütierte gegen Club Olimpo und gab, nachdem er 25 Minuten lang auf dem Platz geantwortet hatte, eine bemerkenswerte Auskunft zu den Grundvoraussetzungen seiner physischen Konstitution: "Ich bin nicht dick. Ich neige nur zu einem dicken Hintern."

Gleichwohl hat er nicht immer nach den Vorgaben gelebt, die Fußballprofis auferlegt werden. Vor seiner Verpflichtung durch River Plate galt er fast schon als verschollen. Er ist seit seinem zwölften Lebensjahr ein enger Freund des berühmten kolumbianischen Reggaeton-Sängers Maluma; Quintero selbst hatte vor einiger Zeit erwogen, seine Fußball-Karriere zu beenden und in die Musikbranche zu wechseln. Das war, nachdem sich Quinteros europäische Gastspiele - Pescara, FC Porto und Stade Rennes - als eine einzige Enttäuschung entpuppt hatten. Er kehrte zunächst zurück nach Medellín, wechselte dann nach Buenos Aires zu River - und wurde dort erst wenige Wochen vor der WM zum Stammspieler. Dass Pékerman ihn nominierte, überraschte nicht nur die Hersteller des Sammelalbums der WM, die kein Quintero-Bildchen lieferten. Sondern auch Quintero selbst.

Pékermans Vertrauen in Quintero fußt darauf, dass er ein Mittelfeldspieler ist, der wie aus der Zeit gefallen wirkt: Er ist gerade mal 1,66 Meter groß, er hat die Gabe, dem Spiel die richtigen Pausen zu geben, vor allem aber hat er einen gesegneten linken Fuß sowie die Eingebungskraft der Straßenfußballer. Gegen Japan verwandelte er einen Freistoß direkt: Er spekulierte darauf, dass die Spieler in der japanischen Mauer hochspringen würden - und behielt Recht. So wie der Brasilianer Ronaldinho vor Jahren bei einem Champions-League-Spiel zwischen dem FC Barcelona und Werder Bremen.

Sollte James noch fit werden, wäre das weder für den Bayern-Profi noch für Pékerman ein Problem. Im Gegenteil. Wie gut die beiden Freunde Quintero und James im Mittelfeld harmonieren, war gegen Polen zu sehen. Sie kennen sich seit Kindheitstagen und haben in Jugendteams, in Klubs und in der Nationalelf zusammengespielt. Unter anderem bei der WM 2014 in Brasilien, wo Quintero ebenfalls ein Tor schoss - weshalb er nun von sich sagen kann, der erste Kolumbianer zu sein, der bei zwei Weltmeisterschaften traf.

"Wir haben mehr als einmal gedacht, dass die beiden gemeinsam gut funktionieren können; immer im Sinne der Mannschaft, versteht sich", sagte Pékerman, der sich an Quintero kaum sattsehen kann. Quintero mache nun Dinge, die ihn noch überraschen, erklärte Pékerman, als er um eine Erklärung für ein Lob der besonderen Art gebeten worden war: Im Spiel gegen Polen hatte er Quintero an die Trainerbank gerufen. Aber nicht, um ihm Anweisungen zu geben. Sondern um ihn zu loben: "Du bist ein Crack! Ein Crack!"

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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