Juventus Turin:Bestialisch verrückt

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Die sonst oft grau getönte Juventus Turin schillert beim Rückspiel in München in allen Regenbogenfarben - bis der Mannschaft die Puste ausgeht.

Von Birgit Schönau, München

Natürlich ist es bitter. Natürlich lecken jetzt die einen ihre Wunden, und die anderen streuen noch Salz hinein. "Fußball kann bestialisch sein", bestätigt Massimiliano Allegri, der seine Mannschaft vor dem Spiel vollkommen neu erfunden hatte, damit die Bayern vollkommen aus dem Takt brachte und am Ende doch scheiterte. Bestialisch, weil nicht mehr zählte, dass Juve länger als eine Stunde das Spiel auf eindrucksvolle Weise dominiert hatte. "Wir haben so gut wie nichts riskiert, hätten sogar noch das dritte Tor machen können", erkannte Allegri. Sein Spieler Juan Cuadrado hatte den Treffer, der eine 3:0-Führung und damit wohl den Sieg gesichert hätte, kurz vor der Pause auf dem Fuß. Und Alvaro Morata - dies inkriminierte Juve-Manager Giuseppe Marotta, unterstützt von den italienischen Gazetten - habe keineswegs im Abseits gestanden, als er in der 22. Minute Manuel Neuer überwand. Ein reguläres Tor annulliert, eine Riesenchance verschenkt - für den Pragmatiker Allegri sind das Erbsenzählereien.

Kam die Auswechslung von Khedira und Morata zu früh? Juve fiel zusammen wie ein Soufflé

Wichtig sei ihm etwas anderes: "Dass wir auf Augenhöhe gegen einen Favoriten bestehen können. Dieses Spiel war doch wie ein Halbfinale." Und der Beweis, dass der Vorjahresfinalist Juventus wieder konstant oben mitmischen kann in Europa. Das Aus im Achtelfinale ist schmerzlich, aber letztlich nur Statistik. Was bleibt, ist die Erinnerung an ganz großes Kino.

Der Franzose Kingsley Coman, der noch den Turinern gehört, weil er von den Münchnern nur ausgeliehen ist, erzielt das vierte Bayern-Tor. (Foto: Lennart Preiss/Getty Images)

Denn Bayern und Juve haben zweifellos die mit Abstand aufregendste Vorstellung dieser Champions-League-Saison bestritten. 210 Minuten, in denen Vorurteile, Klischees und vorgebliche Sicherheiten über den Haufen geworfen werden mussten. Schon im Hinspiel hatte sich Juve als überaus zäher Gegner entpuppt, der sich auch nach einer glatten 2:0-Führung der Bayern nicht einfach ergeben wollte und stattdessen noch ein Remis ertrotzte.

In München mussten die Turiner auf wichtige Spieler verzichten: Der Mittelfeldroutinier Claudio Marchisio und das Offensivtalent Paulo Dybala fielen verletzt aus. Für Allegri eine Gelegenheit zu beweisen, dass der 48-jährige Sohn eines Hafenarbeiters aus Livorno zu den besten Trainern Europas gehört, kann er doch improvisieren wie kaum ein Zweiter. Seine Besonnenheit, gepaart mit einer eklatanten Risikobereitschaft, haben Juventus bereits in der Liga aus einer Talsohle ohnegleichen gebracht - nach dem schlechtesten Saisonstart seit über hundert Jahren steht der Rekordmeister seit Wochen wieder souverän an der Tabellenspitze. In München überraschte Allegri alle mit einer erst Minuten vor Anpfiff offenbarten Formation, die mit Morata nur einen nominellen Stürmer aufbot, aber so offensiv auftrat wie noch nie.

Der erste Treffer, entstanden aus Zuspiel von Sami Khedira und Vollstreckung durch Paul Pogba, erschien derart perfekt inszeniert, als hätten die beiden Protagonisten ihn tagelang geübt. Und der Verdacht liegt nahe, dass das genau so geschehen ist. Die Schwächen der Bayern-Abwehr waren nach sechs Minuten gnadenlos offengelegt, fortan ließ sich Guardiolas Team bezirzen von einem Gegner, der wie aus dem Nichts plötzlich Offensivgiganten aufzubieten hatte: den langen Morata, der allen davonflog, und den quirligen Cuadrado, der den Bayern einen Nadelstich nach dem anderen verpasste. Juve, die Inkarnation grau getönten Effizienzfußballs, schillerte in allen Regenbogenfarben, unfassbar, nicht zu bändigen. Bis ihnen die Puste ausging. Und die Bayern ihre substanzielle Überlegenheit beweisen konnten.

Torwart-Oldie Gigi Buffon grüßt ins Publikum. (Foto: Kerstin Joensson/AP)

In welcher Weise er selbst dazu beigetragen hat, das dürfte den äußerlich so coolen Allegri noch eine Weile beschäftigen und verfolgen. Denn nach der Auswechslung von Khedira (68.) und Morata (72.) schien Juve in sich zusammenzufallen wie ein vorzeitig aus dem Ofen geholtes Soufflé. Für Khedira, der nach Abpfiff durchblicken ließ, dass seine Kondition auch für 90 Minuten gereicht hätte, brachte Allegri die vermeintliche Energiespritze Stefano Sturaro. Doch der 23-jährige Italiener fand nicht ins Spiel. Auch ein weniger geschmeidiger Khedira wäre nützlicher gewesen.

Noch deutlicher der Vergleich zwischen Morata und dem für ihn geschickten Mario Mandzukic. Der Spanier hatte eine Galavorstellung abgeliefert: schnell, ideenreich, strotzend vor Selbstbewusstsein. Nahezu perfekt und für Juve-Verhältnisse fast schon glamourös. Gegen diese Lichtgestalt erschien Mandzukic hölzern und berechenbar. Ein Stürmer von gestern, der älter aussah als Gigi Buffon im Tor.

Juves 38-jähriger Kapitän konnte gegen die vier Gegentore zwar wenig ausrichten, die sonst so formidable Defensive aber, bis dato Nummer eins in der Heimat und Nummer zwei auf dem Kontinent, löste sich binnen Minuten auf. Und das ist für Juve das eigentlich Schockierende an einem Abend, der für beide Gegner alte Sicherheiten ad absurdum führte: Der wackere Schweizer Stephan Lichtsteiner, der beinharte Etrusker Leonardo Bonucci, der welterfahrene Andrea Barzagli und der ruppige Franzose Patrice Evra - sie fielen einfach um, als sich die Bayern endlich zu ihrer Aufholjagd bequemten. Verkehrte Welt: Italiener, die nicht mehr mauern, und ein Guardiola-Team, das zynisch spielt, um am Ende zu gewinnen. Fußball kann bestialisch verrückt sein. Und großartig, wenn die Akteure nicht mehr richtig ticken.

© SZ vom 18.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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