Japan:Die Lehren des altmodischen Herrn Nishino

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Schutz für den Kopf des Künstlers: Der Dortmunder Shinji Kagawa, Torschütze beim 2:1 gegen Kolumbien, trotzt dem Regen in Kasan. (Foto: Toru Hanai/Reuters)

Japan findet auch dank der Methoden seines Trainers zu überraschender Stärke.

Von Benedikt Warmbrunn, Kasan

"Ein Wunder?" Eiji Kawashima senkt den Kopf sanft nach vorne, er hebt die Hände vor sein Gesicht. Dann schließt er die Augen.

Eiji Kawashima, 35, steht in einem weißen Zelt auf dem Vereinsgelände von Rubin Kasan, das monotone Prasseln des Regens verschluckt fast jedes Wort, aber Kawashima schweigt ohnehin sekundenlang. Er denkt zurück an diesen Dienstagnachmittag in Saransk, an dem die japanische Nationalmannschaft 2:1 gegen Kolumbien gewonnen hat; erstmals überhaupt hatte eine asiatische Mannschaft bei einer WM eine südamerikanische besiegt. Kawashima öffnet die Augen. "Das war kein Wunder. Das passiert, wenn eine Mannschaft zusammenhält."

Kolumbien sei besser gewesen, sagt Torwart Kawashima, "aber wir haben unseren Kopf benutzt"

Der Torwart Kawashima hat an diesem Mittwochvormittag natürlich mitbekommen, wie fassungslos die Menschen in der Heimat sind nach diesem Sieg, mit dem keiner gerechnet hat. Er hat mitbekommen, dass viele von einem Wunder sprechen, auch die Hundertschaft an mitgereisten japanischen Journalisten; manche erinnern sogar an das 1:0 bei den Olympischen Spielen 1996 gegen Brasilien, in der Geschichte des japanischen Fußballs gespeichert als: Das Wunder von Miami.

Kawashima aber kennt die Launen des Fußballs, er hat als Jugendlicher in Italien trainiert, er hat in Belgien gespielt, in Schottland, seit 2016 spielt er für Metz in Frankreich, inzwischen spricht er sieben Sprachen. Und in jeder Sprache ist ein Wunder etwas Fremdgesteuertes, kaum Wiederholbares. Eiji Kawashima sagt: "Wir waren gut vorbereitet gegen Kolumbien. Und wir werden auch gegen Senegal und Polen gut vorbereitet sein."

Auch Kawashima weiß, dass Japan profitiert hat von dieser frühen roten Karte gegen Kolumbiens Carlos Sanchez. Er findet aber, dass auch dieser Vorteil erst einmal ausgenutzt werden muss, Japan gelang das durch Tore von Shinji Kagwa und Yuya Osako. Ja, Kolumbien sei spielerisch besser gewesen, sagt Kawashima, "aber wir haben unseren Kopf benutzt".

An diesem Turnier nimmt vielleicht keine andere Nation teil, die der mentalen Arbeit so viel Wert zugesteht wie die japanische. Sieben Spieler im Team haben schon Bücher geschrieben, darunter natürlich auch Kawashima ("Ziele für die Weltmeisterschaft!"). Alle Bücher behandeln die mentale Stärke, manche sind selbstironisch wie das von Shinji Okazaki ("Stumpfe Füße"), manche sind philosophisch wie das von Abwehrchef Maya Yoshida ("Unbeatable Mind"). Das Buch von Kapitän Makoto Hasebe, Kokoro o totonoeru (ungefähr: Das Gehirn trainieren), ist ein Bestseller in Japan; durch die Einnahmen hat der Kapitän von Eintracht Frankfurt mehr als 1,5 Millionen Euro für die Opfer des Tsunamis 2011 in Fukushima gesammelt. Hasebe schreibt in seinem Buch zum Beispiel, dass es wichtig war, dass er stets weiter positiv gedacht habe, als er vor ein paar Jahren in Wolfsburg oft auf der Bank saß. Auch nach dem 2:1, sagt am Mittwoch also Kawashima, "dürfen wir nicht unseren Kopf verlieren". Wie das am besten gelingen soll? "Wir müssen weiter miteinander reden."

Derjenige, der verstanden hat, dass das japanische Team eine ganz eigene Kraft hat, ist Trainer Akira Nishino. Bei der WM 2014 hatte Alberto Zaccheroni die Japaner betreut, der Italiener vertraute elf Stammspielern, die durften auch reden, alle anderen mussten zuhören. Japan scheiterte in Brasilien in der Vorrunde, mit einem Punkt, das letzte Gruppenspiel gegen Kolumbien verlor das Team 1:4; Zaccheroni trat zurück. Ein paar Monate später übernahm Vahid Halilhodzic die Blue Samurai, und die Kommunikation wurde noch schlechter. Halilhodzic sprach nur Französisch, was außer Kawashima niemand verstand. Das war das erste Problem. Das zweite war, dass Halilhodzic zwar Diskussionen forderte, aber wer ihm widersprach, spielte eben erst einmal nicht mehr. Außerdem fand Halilhodzic, dass niemand mehr gelobt werden durfte als er selbst. Kagawa und Keisuke Honda, die Künstler im Team, machte er kleiner, indem er sie zu Arbeitern degradierte - die beiden fühlten sich unverstanden und traten zurück. Von Okazaki, einem der ritterlichsten Arbeiter im Team, erwartete Halilhodzic mehr Tore - da Okazaki in Leicester aber als Zulieferant eingesetzt wurde, fühlte auch er sich unverstanden und trat zurück. Im Frühjahr legte sich Halilhodzic schließlich noch mit dem Verbandspräsidenten Kozo Tashima an, er hatte sich endgültig überschätzt. Tashima feuerte Halilhodzic, und er holte Nishino, den Mann, der Japan 1996 beim Wunder von Miami betreut hatte.

Der Trainer will alle 20 Spieler einsetzen - jeder soll spüren, dass er etwas beizutragen hat

Der 63-jährige Nishino, der selbstverständlich auch schon ein Buch über seine Methoden geschrieben hat, gilt nicht als sonderlich modern, mit Taktik befasst er sich nur am Rande. Er arbeitet lieber wie ein Lehrer. In Teambesprechungen stellt er vor allem Fragen, die Spieler sollen selbst die beste Lösung finden. So gefällt es Nishino, dass Kagawa stets neben dem Mainzer Yoshinori Muto sitzt, beim Essen, im Bus, und immer sprechen die beiden über Auswege aus Spielsituationen. Nishino hat angekündigt, dass er in Russland alle 20 Feldspieler einsetzen will, weil er fest daran glaubt, dass Erfolg nur eintritt, wenn jeder spürt, dass er selbst etwas beitragen kann. Gesetzt sind allein die Strategen Yoshida und Hasebe, dazu Osako, der Siegtorschütze gegen Kolumbien, er ist der einzige Torjäger. Die Künstler Kagawa und Honda streiten sich um den einen Platz, den Nishino der Kreativität freihält.

Ob das 2:1 gegen Kolumbien ein Wunder war, wurde auch Wundermann Nishino in Saransk gefragt. "Nein", sagte er, "das war kein Wunder. Das war der Anfang eines Weges."

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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