Hamburger SV:Plötzlich im Himmel

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Die Pokalversager vom HSV können sich nach dem zweiten Sieg im zweiten Spiel der Komplimente kaum erwehren. Glücklicherweise findet Trainer Gisdol noch Gründe zum Tadel.

Von Philipp Selldorf, Köln

Die Hamburger Anhänger hatten vorgebeugt und ein Banner mitgebracht, auf dem "Spitzenreiter" stand. Goldene Buchstaben auf schwarzem Grund, nicht unelegant. Vor diesem Prunkstück der Fankultur versammelten sich zu später Stunde im Müngersdorfer Stadion die Spieler des Hamburger SV und zelebrierten mit ihren Sympathisanten den 3:1-Sieg beim 1. FC Köln. An diesen Erfolg hatte zuvor nicht mal der eigene Trainer glauben wollen. "Wir hatten uns erhofft, dass wir - wenn alles gut und perfekt läuft - vielleicht 'nen Punkt mitnehmen könnten", erzählte Markus Gisdol. Dass es stattdessen drei wurden, und dass diese Ausbeute dem HSV für die Dauer einer Nacht zum virtuellen Gelben Trikot verhalf, das klang nach einer beinahe unglaublichen Wendung der Dinge. Zumindest dann, wenn man sich die Reaktionen des Publikums und der Fachpresse auf die Hamburger Pokalniederlage beim VfL Osnabrück vor zwei Wochen ins Gedächtnis ruft. Unter anderem bemerkte damals ein Zeitungskommentator, der Verein brauche jetzt von seinem Gönner Klaus-Michael Kühne 200 Millionen Euro Soforthilfe: 100 Millionen, um die aktuellen Profis loszuwerden; weitere 100, um neue zu beschaffen.

"Wenn jeder für jeden da ist, so wie es heute war, dann sind wir schwer zu besiegen."

Jetzt aber hatten die Hamburger Profis wieder viele Freunde. In der Interviewzone konnten sie sich der Komplimente ihrer berufsmäßigen Kritiker kaum erwehren. Man habe reif, abgeklärt und clever gespielt, hieß es - nicht von den Spielern, sondern von den Berichterstattern. Die Spieler begnügten sich einstweilen damit, festzustellen, was tatsächlich passiert war: "Wir haben sehr gut verteidigt", sagte Albin Ekdal. "Wenn jeder für jeden da ist, so wie es heute war, dann sind wir schwer zu besiegen", ergänzte Dennis Diekmeier, der sein Wissen aus langjähriger Erfahrung speist. Er hat beim HSV viele Spielzeiten erlebt, in denen der HSV nicht die Gestalt einer Mannschaft, sondern einer Ansammlung von Einzelnen hatte. Dass es diesmal ganz anders war, erlaubte Diekmeier einen souveränen Umgang mit dem Rekord, den er in Köln aufgestellt hatte. Auch in seinem 183. Punktspiel war ihm kein Treffer gelungen. Er ist damit, wenn man das so sagen darf, der torloseste Spieler der Bundesligageschichte.

Gisdol war so aufrichtig, über den aufopfernden Einsatz der eigenen Leute zu staunen. Tatsächlich war nicht nur die Laufleistung beachtlich, besonders die der universell aktiven Angreifer Filip Kostic und Bobby Wood, sondern auch das Niveau des Hamburger Eiferns. Die Pokalversager waren mehr als bloß fleißig. Mit ihrer penibel beibehaltenen Ordnung und Organisation hörten sie nicht auf, die Kölner zu Fehlern und Hektik zu zwingen, und die Koordination ging auch dann nicht verloren, als Verteidiger Mergim Mavraj nach knapp 50 gespielten Minuten das Feld verlassen musste. Er hatte es geschafft, zweimal ein nahezu identisches Foul an Kölns Mittelstürmer Jhon Cordoba zu begehen. An seine Stelle rückte Gideon Jung, aber der Kopf des Widerstands war natürlich der wilde Grieche Kyriakos Papadopoulos, den TV-Kommentator Matthias Sammer recht hemmungslos als "verrückten Spieler" titulierte. Es wird deswegen keine Beleidigungsklage geben: Der Angesprochene dürfte sich geehrt fühlen durch Sammers Urteil. Zum Theater taugt Papadopoulos allerdings weniger: Das DFB-Fernsehgericht überführte ihn kurz vor Schluss des Täuschungsversuchs in einem besonders peinlichen Fall. Leider sieht das Regelwerk dafür noch keinen Platzverweis vor.

Gisdol fiel es leicht, das Verhalten seines Abwehrspielers zu tadeln ("so was wollen wir nicht sehen"). Mehr Mühe machte es ihm, der aufgekratzten Spitzenreiter-Stimmung zu begegnen, die ihn schon im Pressesaal ereilte. Unter anderem wurde von ihm verlangt, den Brasilianer Walace in den Himmel zu loben, der vor ein paar Tagen noch zum dringenden Verkaufsobjekt empfohlen worden war. Dieser Versuchung widerstand der schlaue Coach allerdings mit dem gleichen wissenden Lächeln wie den Fragen nach dem Status der Tabellenführung. "Ich werde den Teufel tun, nach zwei Spieltagen irgendeine Gesamtsituation einzuordnen", sagte er. Der Hamburger SV ist eine harte Schule für Fußball-Lehrer. In schlechten - und guten Tagen.

© SZ vom 28.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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