Hängende Spitze:Bewegte Männer

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Kevin Großkreutz, Robin Dutt, Jürgen Kramny, Ralph Hasenhüttl: Es wird geweint, geheult, geschluchzt, geschnieft und geschluckt wie selten zuvor. Was dem Tränen-Experten Michael Holm dazu wohl eingefallen wäre?

Von René hofmann

Es gab eine Zeit, da hieß es auf dem Fußballplatz noch mehr als sonstwo im Land: Ein Indianer kennt keinen Schmerz, Männer weinen nicht! Emotionen zu zeigen galt als verpönt, als mindestens ebenso deplatziert wie alkoholfreies Bier. Diese Zeit ist offensichtlich vorbei. An diesem Wochenende wurde geweint, geheult, geschluchzt, geschnieft und geschluckt wie selten zuvor. Kevin Großkreutz, der erst im Januar aus Istanbul nach Stuttgart gezogen war, wurden nach dem 1:3 gegen Mainz schon bei der ersten Frage die Augen feucht. "Wir sind verantwortlich, es tut mir leid", stammelte der 27-Jährige, der vor zwei Jahren nach der Pokalfinal-Niederlage mit Dortmund gegen den FC Bayern noch eine ganz andere Körperflüssigkeit in einer Hotellobby gelassen hatte.

"Tränen lügen nicht": Michael Holm hat das behauptet. Ist lange her, 1974, und natürlich ging es damals um eine Frau. Aber vielleicht gilt der Satz ja auch für Männer. Stuttgarts Sportvorstand Robin Dutt und Trainer Jürgen Kramny haben dann am Samstag tief blicken lassen. Und Ralph Hasenhüttl führte vor, dass auch einem 48-Jährigen zum Abschied die Augen überlaufen können, selbst dann, wenn er noch einmal eine neue Liebe in einer anderen Stadt gefunden hat, die noch dazu viel Geld mitbringt. Was Michael Holm dazu wohl eingefallen wäre? Vielleicht: "Bei Tag und Nacht war alles schön. Die Tür steht auf, willst du wirklich gehen?"

Gehen oder bleiben? Wenn die großen Fragen verhandelt werden, zeigen sich auch Männer bewegt, die sonst mit fester Stimme klare Anweisungen über den Platz rufen. In München weinte Daniel Bierofka vor Glück, als feststand, dass 1860 zweitklassig bleibt. Helge Leonhardt und Pawel Dotschew, der Präsident und der Trainer von Erzgebirge Aue, flennten vor Rührung beide, als klar war, dass ihr Klub wieder zweitklassig wird. Und in Potsdam röteten sich die Augen von Bernd Schröder. 45 Jahre lang hatte er beim Frauen-Team Turbine die Richtung vorgegeben; nun ist bald Schluss. Selten drängte sich der Begriff "Tränenmeer" derart auf. Gemessen an dem, was sich angeblich in Leicester vollzog, wirken die Gefühlswallungen hierzulande trotzdem bloß wie ein paar heiße Tropfen. Vor der Meisterfeier des Überraschungsteams der Premier League stimmte Andrea Bocelli "Time to Say Goodbye" an und rührte, so berichtet es der sid, "das Stadion zu Tränen".

© SZ vom 09.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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