Fußball-Europameisterschaft:Schock nach der Landung

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Der Kapitän funkt SOS: Bastian Schweinsteiger ruft Hilfe nach Antonio Rüdigers Trainingsunfall. (Foto: Denis Balibouse/Reuters)

Die Mannschaften beziehen ihre EM-Quartiere mit Ping Pong, Darts und Gesang. Für den DFB aber wird es gleich ernst: Verteidiger Rüdiger erleidet einen Kreuzbandriss.

Von Claudio Catuogno und Christof Kneer, München/Paris

Dort, wo Nationalmannschaften ihre Quartiere bei den großen Turnieren beziehen, ist es von Natur aus schön. Und dort, wo die deutsche Auswahl unter der Regie des Teammanagers Oliver Bierhoff einzieht, ist es besonders schön. Die meisten der 24 Teams, die ab Freitag den Europameister ermitteln, logieren an der französischen Küste oder im Großraum Paris; die Alpenregion bevorzugen neben der Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw nur noch die Isländer.

Doch für die malerische Sicht auf den Genfer See hatte die Löw-Equipe samt der 1000 Zuschauer beim Schautraining am Dienstagabend bald keinen Blick mehr. In der ersten Übungseinheit nach der Ankunft lag nach einem Zweikampf mit Thomas Müller plötzlich Antonio Rüdiger auf dem Rasen. Hektisch zitierten die Kollegen die Betreuer herbei, die den Verteidiger des AS Rom zur weiteren Behandlung ins Quartier brachten. Diagnose: Kreuzbandriss im rechten Knie, halbes Jahr Pause.

Die Zeitung L'Équipe ermittelte, dass 51 Prozent der Franzosen ihr Team sympathisch finden

Es ist ein Unfall, der tief ins deutsche Defensivgefüge einwirkt. Rüdiger war als erste Option eingeplant, um im DFB-Auftaktspiel am Sonntag um 21 Uhr in Lille gegen die Ukraine neben dem gesetzten Jérôme Boateng den maladen Mats Hummels (Muskelfaserriss) zu vertreten. Löw hat die Möglichkeit, einen Spieler nachzunominieren; als einziger Defensivspieler aus dem vorläufigen EM-Aufgebot kommt der Hoffenheimer Sebastian Rudy in Frage, den er als Letzten gestrichen hatte.

Sollte es mit den Krankmeldungen im DFB-Team so weitergehen, wird es schwer, die Prognose von Évians Bürgermeister Marc Francina zu erfüllen, der zur Begrüßung mit einem schwarz-rot-gold gehaltenen Blumenstrauß zur Stelle war, und verriet, dass er am 10. Juli in Paris ein Finale Frankreich gegen Deutschland erhoffe. Als Francina das sagte, fehlte einer, der später kommen darf: Löw hatte dem seit Montag zweimaligen Vater Lukas Podolski noch einen Tag Elternzeit gestattet.

Derweil scheint Gastgeber Frankreich ein Problem mit der Stimmung im Land zu haben. In der Zeitung Libération war am Dienstag wieder diese Anzeige geschaltet: Sie zeigt den ehemaligen Nationaltrainer Raymond Domenech im nachtblauen Trikot, ernster Blick, Arme verschränkt, dazu der Satz: "Je ne supporte pas les Bleus." Frei übersetzt: Ich bin kein Fan der Bleus, kein Fan des Nationalteams. Das passt auf den ersten Blick nicht zu der Anteilnahme, die die Franzosen ihrer Équipe umso mehr entgegenbringen, je näher sie ins Zentrum des Turniers rückt. Richtung Paris.

Ein Trainingslager in Biarritz, dann eins im Stubaital/Tirol, Testspiele in Nantes und Metz. Bisher hatten sich die Gastgeber um Trainer Didier Deschamps in der Peripherie vorbereitet. Seit Sonntag sind sie in Clairefontaine, dem Zentrum des Verbands FFF bei Paris. Staatspräsident François Hollande war da, um mitzuteilen, wie sehr er Les Bleus unterstützt. Und die Sportzeitung L'Équipe hat ermittelt, dass 51 Prozent der Franzosen ihr Team sympathisch finden. Ein geradezu sensationeller Wert verglichen mit der Zeit, als Domenech Nationaltrainer war. Der 64-Jährige wird ja mit der größten Schande der Bleus verbunden - als sich die Spieler bei der WM 2010 in Südafrika aus Protest gegen den Coach im Teambus verschanzten und streikten.

Verschanzen und streiken? Das passt in Frankreich schon eher zu den Engländern. Deren Coach Roy Hodgson offenbarte wenig Geschichtsbewusstsein, er ließ den Besuch eines Kriegerdenkmals streichen. Nichts soll vom Ziel ablenken, erstmals seit der Heim-EM 1996 das Halbfinale zu erreichen - keine Vertragsverhandlungen des Stürmers Jamie Vardy, die er explizit verboten hatte, auch keine zusätzliche Reise. Das Team residiert abgeschirmt, die Boulevardzeitung Sun taufte das Quartier in Chantilly "Fort Knox". Dass auf dem Abschiedsfoto nur drei Spieler lächelten, könne kein Zufall sein, unkte sie.

Fröhlicher geht es bei den Schweizern zu, die in Montpellier eingezogen sind: "Gestern Abend haben wir Darts gespielt", berichtete Mittelfeldspieler Gelson Fernandes. Beliebt sei auch Ping Pong, worin Borussia Mönchengladbachs Granit Xhaka begabt sei. Auch auf Kultiges verstehen sie sich: Glück soll ihnen eine weiß-rot gefleckte Holzkuh namens Lilly bringen, die vor dem Hotel aufgestellt wurde.

Hektik bei den Russen: Der nachnominierte Jussupow hat seine Schuhe vergessen

Die Österreicher, ganz im Sinne ihrer bekannten Komponisten Mozart und Haydn, vertrauen nach zwei schwachen Tests gegen Malta (2:1) und die Niederlande (0:2) auf Musik. Klaus Eberhartinger, Frontmann der "Ersten Allgemeinen Verunsicherung", hat am 27. Mai den offiziellen ÖFB-Song veröffentlicht. Darin besingt er die Ausgangslage ungewohnt euphorisch: "Niemals stärker, niemals härter, niemals besser. Ja, das sind wir." Schau' mer mal. Oder wie Bayerns Robert Lewandowski sagt: "Das Wichtigste ist, was in Frankreich passiert." Der Pole war im letzten Testspiel geschont worden, sein Turnier-Auftrag ist eh klar: Tore schießen.

Hektik brach kurzzeitig bei den Russen aus: Nach der Verletzung von Igor Denissow war Artur Jussupow als erster Spieler der EM nachnominiert worden. Der Petersburger hatte nach seiner stürmischen Anreise jedoch seine Schuhe vergessen. Schalkes Roman Neustädter borgte ihm seine.

Die Mannschaften kommen langsam also alle mit mehr oder weniger Gepäck an. Die Vorfreude in Frankreich steigt - den aktuellen Trainer Deschamps finden 80 Prozent sympathisch. Was allerdings nicht der Grund für die provokante Zeitungsanzeige seines Vorvorgängers ist. Die erschließt sich, wenn man "Je ne supporte pas les Bleus" wörtlich übersetzt. Es heißt: Ich dulde keine blauen Flecken. Domenech unterstützt eine Kampagne gegen häusliche Gewalt. Dass es gerade wichtigere Themen gibt als den Fußball, das ahnen die Franzosen allerdings schon länger.

Wer auf Frankreichs Fußballer aufpasst im Eröffnungsspiel am Freitag in Paris gegen die Rumänen, das ist seit Dienstagabend auch bekannt. Zur gleichen Stunde, in der die Rüdiger-Nachricht kam, wurde der Ungar Viktor Kassai, 40, offiziell für den ersten Pfiff des Turniers nominiert.

© SZ vom 08.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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