Fußball:Ein Fan, der aus dem Zug fiel und starb

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Magdeburger Fanblock kurz nach dem Tod von Hannes (Foto: imago/foto2press)

Ein junger Fußball-Fan trifft im Zug auf eine verfeindete Ultraszene, kurz darauf ist er tot. Das Verfahren wird trotz vieler Widersprüche eingestellt. Ein Besuch bei Eltern, die nach Antworten suchen.

Von Saskia Aleythe, Magdeburg

Mittwochs kommen die Rabauken zum Essen vorbei. Die Mutti kocht, heißt es dann. Ein paar sind es immer noch, die zu Besuch kommen, wenn die Mutti kocht, jede Woche, seit eineinhalb Jahren. "Wir sind sehr dankbar, dass die Rabauken da sind", sagt die Mutti, viele von den Freunden ihres Sohnes kannte sie ja noch gar nicht richtig, bevor das damals passiert ist. Das mit Hannes. Ein Logo des 1. FC Magdeburg hatte er auf der Brust tätowiert, er hat es ihr damals präsentiert: "Hannes, das ist ja wohl nicht dein Ernst", habe sie zu ihm gesagt, sie lacht, sie kann das noch, an den guten Tagen. Heute kommen die Freunde von Hannes zum Essen vorbei. Hannes kommt nicht mehr.

Sonntags kam er meistens, brachte Wäsche mit, die Eltern wohnten nur ein paar Straßen weiter. In Barleben bei Magdeburg ist alles nur ein paar Straßen weiter, auch der Friedhof vom Elternhaus, der Vater besucht Hannes jeden Tag. Früher haben sie zusammen im gleichen Betrieb als Schlosser gearbeitet, jetzt steht der Vater am Grab. Und nur eine schmale Straße trennt den Friedhof vom Bahnhof, wo Hannes am 2. Oktober 2016 ankommen wollte, kurz nach Mitternacht.

Um 23.54 Uhr steigt er in Haldensleben in einen Zug und trifft auf verfeindete Fußballfans, um 0.12 Uhr wäre er daheim gewesen. Um 0.07 Uhr wird er neben den Bahngleisen in Haldensleben gefunden, blutend, mit offener Schädeldecke. Er fällt ins Koma, zehn Tage später wird er für tot erklärt. "Der Hannes kommt leider nicht wieder", sagt die Mutter, "man muss ohne Hannes klarkommen."

Ein paar Wochen später steht Hannes' Bruder am Mittelkreis im Magdeburger Stadion. "Stell dir vor, dein Bruder stirbt, weil er die falschen Farben trug", spricht er in ein Mikrofon, vor Tausenden Fußballfans. "Stell dir vor, er stirbt, weil er Anhänger einer Fußballmannschaft war."

"Die haben den Hannes umgebracht", sagt die Mutter

Ermittlungen mit Verdacht auf Totschlag und schweren Landfriedensbruch beginnen, aber schon nach sechs Monaten wird das Verfahren im Mai 2017 eingestellt, obwohl wichtige Dokumente fehlten. Eine Beschwerde des Anwalts der Familie wird seitdem von der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg geprüft, die Eltern wollen eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. "Wir wissen nicht, was war", sagt der Vater. "Die haben den Hannes umgebracht", sagt die Mutter. Aus den Vernehmungen und Akten ergeben sich etliche Widersprüche, auch die Aussagen seiner Begleiter sind nicht an allen Stellen schlüssig.

Ist Hannes selber aus dem Zug gesprungen, wie es Zeugen behaupten? Oder wurde er gestoßen, wofür es Hinweise im Obduktionsbericht gibt? Wie und warum ging die Zugtür auf, warum fuhr der Zug trotzdem weiter? Statt Antworten gibt es nur etliche Fragen. Und viele Leute, die nichts gesehen haben wollen. Zu viele.

Der 1. Oktober 2016, Magdeburg gewinnt 1:0 gegen Kiel, dritte Liga. Hannes, 25 damals, steht im Ultra-Block. Er kommt danach kurz nach Hause, zieht dann mit Freunden zum Feiern nach Haldensleben weiter. Kurz vor Mitternacht die Heimreise: Er steht mit drei Freunden am Bahnsteig, Einfahrt der Regionalbahn, Hannes betritt den Zug allein durch eine hintere Tür, seine Begleiter weiter vorne. Im Zug trifft er auf 80 Fans des Ligarivalen Hallescher FC, sie kommen vom Auswärtsspiel in Köln und sind schon stundenlang unterwegs. Die Überwachungskamera wurde wohl früh von ihnen abgeklebt, in Fanzügen keine Seltenheit. Alles, was dann passiert, lässt sich selbst aus den Akten nur mit vielen Fragezeichen rekonstruieren. Sicher ist, dass Hannes aus dem fahrenden Zug stürzt und etwa 300 Meter vom Haldenslebener Bahnsteig entfernt von Unbeteiligten gefunden wird, keine zehn Minuten nach dem Vorfall.

Mit dem Schlimmsten müssen sie rechnen, wird den Eltern im Krankenhaus gesagt. "Wird schon, wird schon", sagt sich die Mutter, "das ist ein junger Mann, der packt das schon." Einmal stehen knapp 200 Magdeburg-Fans mit Bannern vorm Krankenhaus, "Kämpfe, Hannes", es ist eine Aufforderung mit drei Ausrufezeichen. "So was in Gange zu bringen, das ist wahnsinnig", findet die Mutter noch heute; dass so viele aus der Fanszene mitfühlten, rührt sie. "Wäre Hannes ein Normalo gewesen, hätten wir heute gar nichts." Sie wären allein, glaubt sie, ohne die FCMler und die anderen Freunde von Hannes, die mittwochs zum Essen kommen. Ein bisschen was hat den Eltern die Fußballszene gegeben, nach dem, was die Gewalt ihnen genommen hat. Freunde von früher sind nur noch wenige da, viele wissen nicht, wie sie den Eltern in ihrer Trauer begegnen sollen. "Man geht einkaufen, und die Leute drehen sich weg", sagt die Mutter. Es ist das zweite Drama nach dem, was sie bis heute nicht mit Sicherheit benennen können. Oft nennen sie es Mord.

Die Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Nord bezeichnet die Hallenser aus dem Zug in einer ersten Reaktion als "gewaltbereiten Mob". Einen Monat später sind erste Ermittlungen in einem Zwischenbericht festgehalten, er legt dar, dass sowohl Hannes als auch seine Begleiter von den Halle-Fans geschlagen und getreten worden sind. Bereits vor diesem Vorfall war es im Zug zu Gewalt gegen einen Fahrgast gekommen, die Bundespolizei führte daraufhin in Gifhorn eine Kontrolle durch - ließ die 80 Fans ihre Reise aber ohne polizeiliche Begleitung fortführen.

Trotz der Hinweise im Zwischenbericht kommt die Staatsanwaltschaft Magdeburg später zu dem Schluss: Hannes wurde nicht so heftig verprügelt, dass er in Todesangst aus dem Zug gesprungen sein könne. Er sei alkoholisiert gewesen und habe die Fahrgeschwindigkeit wohl falsch eingeschätzt, die soll bei 38 km/h gelegen haben. Der Promillewert war im Zwischenbericht noch keine Erwähnung wert. "Es war Sonnabend, er war ein junger Bengel - klar hatte Hannes was getrunken", sagt die Mutter, "aber bloß weil er 1,0 Promille hatte, ist er doch kein Alkoholiker." Es ist ein Wert, für den drei bis vier Bier ausreichen können.

Verdächtige Hämatome am Rücken

Nur ein einziger Zeuge legt sich eindeutig fest, dass Hannes aus dem Zug gesprungen ist, alle anderen wollen nichts Genaueres gesehen haben. Bei ihnen war Hannes plötzlich einfach verschwunden. Einen Sprung stellt vor allem der Obduktionsbericht stark infrage: Die Kopfverletzung zog sich Hannes in Scheitelhöhe zu, es ist von einem Überkopfsturz die Rede, der durch Fremdeinwirkung verursacht worden sein könnte. Ausgeschlossen wird: ein einfaches Herausfallen aus dem Zug. Anzeichen für eine Prügelei vor dem Sturz sind im Obduktionsbericht nicht vermerkt, es werden aber Hämatome am Rücken beschrieben, die für ein Heraustreten aus dem Zug sprechen könnten.

Weil im ersten rechtsmedizinischen Gutachten kurz nach dem Vorfall allerdings ein Hinweis darauf fehlt, wird darauf verwiesen, dass die Hämatome damals womöglich noch nicht zu sehen waren, oder auch im Zuge einer OP entstanden sein könnten: Hannes hatte am vierten Tag im Koma eine Darmlähmung erlitten, die Folge seines Schädel-Hirn-Traumas gewesen sein soll. Eine Einschränkung, die die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss bringt, er sei halt doch selber gesprungen - Überkopfsturz hin oder her. Im Obduktionsbericht wird ein Nachstellen mit Dummy empfohlen, um das Sturzgeschehen nachvollziehbar zu machen - dazu kommt es nicht.

Auch zum Öffnen der Zugtür gibt es Unklarheiten. Unter welchen Umständen lässt sich eine Tür bei voller Fahrt öffnen? Ist es normal, dass der Zug dann einfach weiterfährt? Die Deutsche Bahn hatte der Mitteldeutschen Zeitung im Oktober 2016 mitgeteilt, während der Fahrt könne "unter normalen Bedingungen die Tür nicht geöffnet werden" - trotz Betätigung der Notentriegelung. In den Zeugenberichten fliegt das Vokabular wild durcheinander, Hannes habe "Hebel zur Türöffnung" selber betätigt, wahlweise auch "Notentriegelung" und "Notbremse". Bis zu drei Mal soll die Tür je nach Zeugenaussage geöffnet worden sein, der Zugführer hatte nach eigener Aussage nur einmal ein Signal für eine Türstörung im Display bemerkt. Dann ist der Zug langsamer geworden, aber nicht zum Stehen gekommen.

Mitarbeiter des Eisenbahnbundesamtes untersuchten den Zug kurz nach dem Vorfall, ein Gutachten sollte angefertigt werden - obwohl das nicht vorlag, wurde das Verfahren eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg will sich auf mehrfache Nachfrage nicht dazu äußern.

Hätte der Zug anhalten müssen? "Hätte, hätte ...", sagt die Mutter, sie macht dem Zugführer keinen Vorwurf. "Der ist froh, wenn er so eine Tour beendet hat", sagt sie, "das ist bestimmt kein leichter Job, mit solchen Vollidioten so eine Fahrt zu machen." Dass Hannes sich auch mal geprügelt hat, das weiß sie, sie verherrlicht das nicht. Sie versucht, gerecht zu sein, auch wenn das Leben gerade wenig Gerechtigkeit für sie übrig hat.

Wenn die Mutter ein Auto mit Hallenser Kennzeichen sieht, wird es unruhig in ihr. "Ich weiß, dass nicht alle Halle-Fans Idioten sind", sagt sie. Aber oft genug wurde sie auch nach Hannes' Tod mit genau denen konfrontiert. "Ich bin froh, ein Mörder zu sein", schrieben sie bei Facebook auf Fanseiten. "Hoffentlich hatte Hannes Schmerzen bevor er verreckt ist", schrieb ein anderer; er verlor seinen Job, nachdem ihn andere User gemeldet hatten. Ein anderer schrieb die Mutter direkt an: Er wisse, wer Hannes aus dem Zug gestoßen habe. Obwohl er mit Klarnamen auftrat, wurde der Mann laut Aktenlage bis heute nicht vernommen, zum Aussagetermin mit der Polizei soll er nicht erschienen sein, die Staatsanwaltschaft hat sich offenbar nicht weiter mit ihm beschäftigt.

"Wir fühlen uns machtlos, ohnmächtig", sagt der Vater, "ich habe das Gefühl, dass da was vertuscht werden soll." "Die haben sich gegenseitig gedeckt", sagte der Anwalt der Familie der Mitteldeutschen Zeitung über die vernommenen Halle-Fans. Einer, der identifiziert werden konnte, war der Anführer einer Ultragruppierung aus Halle. Gegen ihn lag zum Zeitpunkt der Einstellung des Verfahrens ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung vor, auch wegen eines Vorfalls im Zug. Eine Kontaktaufnahme der SZ mit ihm oder anderen Vertretern der Ultras kommt nicht zustande, der Fanbeauftragte in Halle schreibt nach Rücksprache mit dem Mann: "Ein Interesse an einem Gespräch besteht nicht."

Magdeburger Ultras meiden bis heute Spiele in Halle

Das Derby gegen Halle ist immer eine große Nummer gewesen seit der Wende, ein Kampf um die Vorherrschaft in Sachsen-Anhalt, der oft auch mit Fäusten ausgetragen wurde, begleitet von Hundertschaften der Polizei. Seit Hannes' Tod ist manches anders. Vom Halleschen FC meldete sich zwar nie jemand, sagen die Eltern, aber die Fanszene des Klubs bekundete öffentlich ihr Beileid. Auch in Magdeburg riefen sie trotz Rivalität und Wut zur Besonnenheit auf. Man vereinbarte, sich bei Derbys vorerst aus dem Weg zu gehen, um die Sache nicht eskalieren zu lassen. "Wir wollen eine Aufklärung und nicht, dass sich hier noch irgendwelche totprügeln", sagt die Mutter, "sonst sitzt die nächste Mutti da und weint um ihr Kind."

Die Magdeburger Ultras meiden bis heute Spiele in Halle, das ist auch als Protest gegen die Einstellung des Verfahrens zu verstehen. Fast 14 000 Zuschauer waren beim Landespokalfinale 2016, dem letzten Derby vor Hannes' Tod. Seitdem kamen nie mehr als 8000. An diesem Samstag treffen die beiden Mannschaften zum vorerst letzten Mal aufeinander, wieder wollen Tausende Magdeburger Halle fernbleiben.

Gerade erst hat der FCM den Aufstieg in die zweite Bundesliga perfekt gemacht. "Hannes hätte sich wahrscheinlich auch noch die Haare blau-weiß gefärbt, der wäre abgegangen wie ein Zäpfchen", sagt die Mutter. Der Vater hat Hannes' Kinderzimmer hergerichtet mit Dutzenden Schals und Trikots und einem riesigen Konterfei an der Wand. Die Mutter betritt das Zimmer nicht, sie schafft das nicht. Mit Fußball hatten die Eltern nie viel zu tun, nach Hannes' Tod waren sie ein paar Mal im Stadion. Den Grabstein konnten sie mit Spendengeldern bezahlen, ein großes U für den U-Block prangt unter seinem Namen, manchmal liegt ein Schlüsselband vom Verein dabei. "Dann wissen wir, es war wieder jemand da", sagt die Mutter. "Hannes unvergessen" ist der Spruch, den sie oft durchs Stadion getragen haben.

Nach der Beerdigung schossen Pyros aus dem Garten der Eltern in Barleben in die Luft. "Das war laut, aber irgendwie ... schön", sagt die Mutter. Es war ein Abschied zur Stadionhymne "You'll never walk alone". Ein Bild von Hannes hat die Mutter heute groß über dem Herzen tätowiert.

© SZ vom 28.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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