Finale der Motorrad-WM:Cäsar gegen Peter Pan

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So freundlich, wie sie hier wirken, gehen Jorge Lorenzo, Valentino Rossi und Marc Márquez vor dem Finale der MotoGP nicht miteinander um. (Foto: Fazry Ismail/dpa)

Die dramatische WM-Entscheidung in der MotoGP sorgt für eine Rückkehr des Patriotismus: Italiens Rossi fühlt sich benachteiligt, Spaniens Lorenzo hat Verbündete.

Von Birgit Schönau

Es ist ein Showdown, wie ihn die Motorrad-Welt noch selten erlebt hat, letzter Akt in einem Drama voller Missgunst, Hass und Intrigen. Zur Aufführung soll es am Sonntag auf der Piste von Valencia kommen, mit den Protagonisten Valentino Rossi, Jorge Lorenzo und Marc Márquez. Italien gegen Spanien, Yamaha gegen Yamaha, junge Wölfe gegen alten Fuchs. Titelverteidiger ist der Spanier Márquez, 22, er würde unter ferner liefen fahren, wäre da nicht seine entscheidende Rolle im Titanenkampf um den WM-Titel. Ob als Opfer oder als Schurke, das sei mal dahin gestellt, für Márquez wie für Valentino Rossi.

Der Italiener, 36, führt mit sieben Punkten in der Gesamtwertung der MotoGP vor seinem acht Jahre jüngeren Yamaha-Kollegen Lorenzo.

Die beiden Rivalen fahren also für dieselbe Firma, aber nicht für dasselbe Land. Das mag entscheidend sein für die dramatische Zuspitzung im letzten Rennen, die von unterschiedlichsten Gefühlen befeuert wird. Darunter eins, das im Geheule der Global-Business-Motoren schon längst untergegangen schien: Patriotismus.

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Die beiden Spanier würden gemeinsame Sache gegen ihn machen, klagt Rossi schon seit geraumer Zeit, und deshalb fahre Márquez in Wirklichkeit weniger für sich und Honda als für Lorenzo und Yamaha. Vor zwei Wochen, beim Großen Preis von Malaysia in Sepang, kam es nach einer Reihe von Verbalgefechten zwischen Rossi und Márquez zu einem folgenreichen Gerangel. Der junge Spanier bedrängte den italienischen Rekordchampion, dieser berührte ihn und brachte ihn zu Fall. Dass Rossi Márquez sogar absichtlich einen Tritt verpasste, ist nicht eindeutig bewiesen, der Zusammenstoß jedoch auf Videoaufzeichnungen klar zu sehen.

Die Rennkommissare verdonnerten den Favoriten jedenfalls in die letzte Startreihe des Parcours von Valencia. Für den neunmaligen Weltmeister, der den zehnten Titel schon zum Greifen nah sah, ist das ein großer Nachteil, war doch seit 23 Jahren der Abstand zwischen dem Ersten und seinem Verfolger nicht so knapp wie der zwischen Rossi und Lorenzo. Der Italiener müsste den ersten oder zweiten Platz belegen, um Weltmeister zu werden - oder darauf hoffen, dass der Spanier das Rennen nicht gewinnt. Falls doch, müsste Rossi Zweiter werden. Kommt Lorenzo als Dritter ins Ziel, muss Rossi mindestens Sechster sein. Wird Lorenzo Vierter, muss Rossi wenigstens Neunter werden.

Rossi erhob gegen den Start aus der letzten Reihe Einspruch beim internationalen Sportgerichtshof Cas. Das wurde abgelehnt. Der Veteran wird das Rennen seines Lebens fahren müssen. Ganz großes Spektakel also, da darf auch die Politik nicht fehlen. Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy erklärte über Twitter seine Unterstützung für Márquez und schrieb sibyllinisch: "Im Sport wie in der Politik kann man sich nicht alles erlauben." Das galt dem Schurken Rossi, der sein armes Opfer von der Bahn geschoben hatte. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi rief Valentino Rossi persönlich aus Peru an, um zu verkünden: Italien steht hinter dir!

Im Mutterland der Verschwörungstheorien meldeten sich erwartungsgemäß auch die Komplott-Profis aus dem Fußball zu Wort. "Valentino hat viele Neider und die haben ihm eine Falle gestellt", analysierte Weltmeistertrainer Marcello Lippi. "Márquez ist ein Agent Provocateur, der nur Hass und Missgunst ausstrahlt", befand Arrigo Sacchi. Marco Materazzi, der als provocateur im WM-Final von 2006 erst einen Kopfstoß von Zinedine Zidane und dann den Titel eingeheimst hatte, tönte, Valentino sei ein richtiger Mann, Márquez aber nur ein falsches Kind. Paolo Rossi, das Fußballidol vergangener Zeiten, blieb lieber fair: "Fahr' halt nach Spanien und werde da Weltmeister wie ich 1982!"

Doch zwischen Rossi und Rossi liegen Welten, und so klingt das Beharren auf der alten Fußballerweisheit, die Wahrheit liege immer noch auf dem Platz, in den Ohren des Pistenfuchses Valentino vermutlich noch befremdlicher als das nationalistische Pathos seiner Landsleute.

Unter den Individualisten des Motorsports sind Zweiradfahrer die schrägsten Vögel. Eher Artisten als Piloten, seit der Vorpubertät mit ihren Krads verbunden, kurven sie mit vollendeter Körperbeherrschung über die Pisten. Frauen haben in dieser Welt noch sehr viel weniger zu suchen als in der Formel 1. Lorenzo und Márquez haben noch nicht einmal eine feste Freundin. Rossi hat eine "Verlobte", die aber so gut wie nie an seiner Seite auftritt. Das muss man im Hinterkopf haben bei diesem Königsdrama, in dem jeder der drei von finsteren Mächten umschattet ist als sei es ein Stück von Shakespeare.

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Es ist ein Clinch zwischen Männern, die von Berufs wegen nicht erwachsen werden dürfen. Und es geht darum, wer der beste Peter Pan ist. Vergebens mühen sich Márquez und Lorenzo, den Übervater Rossi aufs Altenteil zu drängen, um selbst die Heldenrolle zu übernehmen: Dazu fehlt ihnen der Appeal. Sie sind jünger als Rossi, aber nicht so originell, sie können Rennen und Titel gewinnen, aber nicht die Massen begeistern, weil sie außerhalb der Piste entsetzliche Langweiler sind. Rossi sagt: "Früher konntest du abends lange aufbleiben, ein paar Bier trinken und hast trotzdem gewonnen." Heute sei das ganz anders, weil die Konkurrenz "unglaublich athletisch" geworden sei, eine Horde sorgsam gestählter Muskeltiere, die es nicht schaffen, den alternden Popstar zu überholen.

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Rossi ist lässig, die anderen sind verkniffen. Er bleibt cool, wenn sie neben ihm kochen. So war es bis zur Kurve 14 von Sepang, als Marc Márquez den Pisten-Patriarchen aus der Reserve lockte. "Nie wütend werden, wenn sie sagen: Du bist zu alt, du kannst hier nichts mehr holen", hatte Rossi stets über die Jungen gescherzt, die für ihn Kinder waren, deren Groll er aber ahnte wie Julius Cäsar die Ränke des Ziehsohns Brutus. War Márquez nicht schon als kleiner Junge zu seinem Idol Valentino gekommen, um ein Autogramm zu erbetteln? Hatte er nicht als Heranwachsender unter einem Valentino-Starschnitt geschlafen? In Kurve 14 wagte er die entscheidende Attacke, und der Cäsar Rossi verlor seinen Kopf.

"Wenn ich etwas bedauere", so bekannte er vor dem Rennen von Valencia, "dann, dass ich in Sepang von meinem Kurs abgekommen bin." Ausgerechnet in Sepang, wo vor vier Jahren der Italiener Mario Simoncelli gestorben war, bei einem Unfall, in den Rossi unabsichtlich involviert war. Damals hatte Rossi öffentlich über seinen Rücktritt nachgedacht. Dann aber wechselte er doch nur das Motorrad.

Márquez stürzte in der Kurve, Rossi aber kam von der Ideallinie ab. So weit, dass sich Jorge Lorenzo später traute, ihn auf dem Podium zu verhöhnen, indem er den Daumen über ihn senkte, wie weiland die Imperatoren Roms über den geschlagenen Gladiatoren im Kolosseum. Es war die falsche Geste zur falschen Zeit, weswegen Lorenzo sich ein paar Tage später artig entschuldigte.

Der Weltverband hatte die Kontrahenten vor dem Rennen in Valencia angewiesen, nicht noch Öl ins Feuer zu gießen. Die jüngsten Ereignisse hätten dem Sport geschadet und die Atmosphäre vergiftet, hatte Präsident Vito Ippolito geklagt: "Wir entfernen uns von Stolz und Sportsgeist und damit vom Kern des Motorradsports." Was natürlich entweder sehr naiv oder sehr heuchlerisch ist, denn aus dem Sport ist eine große Show geworden, und der Topverdiener ist natürlich der Super-Entertainer Valentino Rossi. Er bringt es auf 15 Millionen Euro Jahresgage, soviel verdient kein anderer italienischer Sportler. Wo aber Show ist und großes Drama, da kommen auch das Publikum und die Sponsoren. Die Leute bezahlen in erster Linie für Rossi, während sich von Márquez und Lorenzo schon die ersten Sponsoren distanzieren wollen. Soviel zu Stolz und Sportsgeist.

Im ersten Groll hatte Rossi angekündigt, in Valencia erst gar nicht antreten zu wollen. Wie Cäsar, der an den Iden des März mit dem Gedanken spielte, lieber einen Bogen um das Pompeius-Theater zu machen, der dann aber doch ging, auf dass der letzte Akt stattfinden konnte. Am Ende mag auch der Doktor nicht kneifen. Ein ganzes Land wird am Sonntag um 14 Uhr vor dem Fernseher zittern, es werden in Italien voraussichtlich nicht viel weniger Zuschauer sein als stünde die Squadra Azzurra in einem WM-Finale. Ob Rossi dann gewinnt oder nicht, ob er es noch einmal herumreißt oder dem Rivalen Lorenzo den Sieg überlassen muss, das ist natürlich sehr spannend - aber nicht entscheidend. Die Legende ist längst schon geschrieben.

Rossis Vertrag mit Yamaha läuft noch ein Jahr. Danach wird er sich auf seine Rennschule in Tavullia konzentrieren, in der eine Generation ausgebildet wird, die dereinst Marquez, 22, vom Thron stürzen könnte. Vom Motorrad wird der Doktor selbst dann noch lange nicht gestiegen sein. Außerhalb der Saison kann es auf der "Panoramica", der kurvenreichen Traumstraße hoch über der Adria geschehen, dass man von einem irre schnellen Motorradfahrer überholt wird, auf dem Kopf ein Rossi-Helm. Das ist er selbst, Valentino auf seiner Straße. Alle Pisten der Welt führen wohl dahin.

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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