Fall Kumaritaschwili:Todeskurve 16 - bloß schnell weiterrodeln

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Die olympische Familie sucht nach dem Tod von Kumaritaschwili die Normalität - und hat Angst vor Fahrfehlern. Die ersten Rodel-Rennen gewinnen Deutsche.

M. Neudecker

Um kurz nach zwölf kam Lewan Gureschidze, er war ganz in schwarz gekleidet, schwarze Trainingshose, schwarze Jacke, schwarze Mütze. Er ging zu Kurve 16, dem Ort, an dem Nodar Kumaritaschwili am Tag zuvor gestorben war, und dann stand er da, weinte, minutenlang weinte er.

Ein Bild dieser Spiele: Lewan Gureschidze weint am Ort, wo sein georgischer Rodel-Freund Nodar Kumaritaschwili starb. (Foto: Foto: AFP)

Lewan Gureschidze ist Rodler wie es Kumaritaschwili war, die beiden kannten sich, seit sie Kinder waren. Und jetzt wird dies eines der Bilder sein, die von den Olympischen Winterspielen 2010 in Erinnerung bleiben werden: Wie der Georgier Lewan Gureschidze an Kurve 16 im Whistler Sliding Centre steht und weint.

Kurve 16 der Olympischen Rodelbahn ist die letzte, die Zielkurve des Rennens. Es ist eine lange 180-Grad-Kurve, sie ist das, was der Strafraum im Fußball ist: Die Leute werden unruhig, wenn der Sportler dort ist. Eine große Tribüne steht vor Kurve 16, mehrere Kameras, und an diesem Samstagabend, dem Tag nach dem Unglück, ist die Tribüne fast voll.

Die Leute tragen Fähnchen, bunte Hüte, manche tragen Faschingskostüme, einer hat sich als Abraham Lincoln verkleidet, er sieht lustig aus mit dem langen Bart und dem hohen Zylinderhut.

Die Olympische Familie ist im Zwiespalt seit der Georgier Kumaritaschwili am Freitag in Kurve 16 gegen einen Betonpfeiler geflogen ist. Ein Todesfall, so kurz vor der Eröffnungsfeier, so etwas macht es nicht einfach, sich über Olympia zu freuen. Die großen Zeitungen Kanadas haben am Samstag versucht, der journalistischen Herausforderung gerecht zu werden, einerseits ihr Land für die gelungene Abendzeremonie zu feiern, aber andererseits das tragische Geschehen vom Nachmittag pietätvoll zu behandeln:

"Ein langer Schatten"

Sie haben Kommentare geschrieben über die Zerbrechlichkeit Olympias, haben versucht, den Unfall zu erklären, haben hinterfragt, inwiefern die Kanadier als Veranstalter eine Schuld daran trifft. "Kumaritaschwilis Tod erinnert uns, wie launisch und unvorhersehbar Sport sein kann", schrieb die Vancouver Sun; die überregionale Zeitung The Globe and Mail berichtete auf den Seiten zwei und drei ausführlich über den Unfall und seine Folgen, erst dann folgten Texte und Bilder der Eröffnungsfeier. "Einen langen Schatten" werde diese Sache werfen, schrieb das Blatt.

Dort, wo der Schatten seinen Ursprung hat, versuchten die Beteiligten, möglichst schnell den Alltag wieder einzuholen. Noch am Nachmittag, während der Trainingsläufe, hatten sie die Lautsprecheranlange an der Rodelbahn ausgeschaltet, man wollte keinen Lärm, keinen Trubel.

Am Abend, als der Wettkampf begann, zeigten sie erst das Bild von Nodar Kumaritaschwili auf den Videoleinwänden, und dann schalteten sie die Lautsprecher wieder ein, die Fans bejubelten ihre Rodler, und jedes Mal, wenn einer in Kurve 16 einfuhr, wurde es laut auf der Tribüne. Und wer könnte ihnen das zum Vorwurf machen? Die Georgier selbst hatten entschieden, zu bleiben und weiter an den Wettkämpfen teilzunehmen, wie ihr Sportminister Nikolos Rurua verkündete - wie sie es auch 2008 in Peking entschieden hatten, als Russland in ihr Land einfiel.

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Trauer bei Olympia
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Aber wenn die Rennen zu Ende sind und das Jubeln verstummt ist, dann wird das Thema präsent sein während dieser Spiele. Weil es ja auch um wichtige, weiterführende Fragen geht. Die Frage nach der Schuld an dieser Tragik, die Frage, wie man so etwas künftig verhindern kann.

Es wird nun viel über die Bahn geredet, die wahnwitzige Geschwindigkeiten von über 150 km/h ermöglicht, und die dafür sorgt, dass in Kurve 16 mehr als das Fünffache des Körpergewichts auf den Rodler wirken. Es wurde entschieden, die Männer künftig vom Frauenstart losfahren zu lassen und die Frauen vom Juniorstart, "eine richtige Entscheidung", findet der Deutsche Felix Loch. Eigentlich finden das alle, nur der deutsche Trainer der Kanadier, Wolfgang Staudinger, kritisierte das Vorgehen, weil er seinen Heimvorteil gefährdet sieht. Staudinger hat viel Kopfschütteln bekommen und viel Ärger für sein Verhalten.

Neue weiße Holzbanden

Aber was ist schon richtig und was falsch, wenn einer stirbt? An der Stelle, wo Kumaritaschwili starb, hielten sie so etwas sogar für so abwegig, dass sie kaum Seitenbanden errichtet hatten. Jetzt haben sie dort über Nacht weiße Holzbanden hingenagelt, damit die Rodler in der Bahn bleiben, auf jeden Fall, und haben den Übergang zwischen Seitenwand und Boden der Bahn eckiger gemacht, um die Katapultwirkung, die Kumaritaschwilis Schlitten aus der Bahn schleuderte, zu entschärfen.

Im ersten Lauf am Samstagabend fuhr dann der Amerikaner Bengt Walden plötzlich zu weit nach oben, stieß in der Kurve gegen die Bande wie auch Kumaritaschwili, das Publikum schrie entsetzt auf, aber Bengt Walden ist ein Weltklasserodler, er hatte den Schlitten sofort wieder unter Kontrolle und fuhr unbeschadet aus der Kurve hinaus.

Die Trainer und Athleten an der Rodelbahn sagen, dass dies wohl auch einer der Gründe für das Unglück gewesen sein könnte: Dass der 21-jährige Georgier, ein unerfahrener und höchstens durchschnittlicher Rodler, den hohen Anforderungen der Olympiabahn nicht gewachsen gewesen sei.

Felix Loch führt

Der deutsche Bundestrainer Norbert Loch sagt, als er am Montagabend im Schneeregen an der Bahn steht: "Man muss die kleineren Nationen noch besser fördern und unterstützen, damit sie besser werden", er hält kurz inne, dann fügt er hinzu: "Immer unter dem Gesichtspunkt, dass die Bahn sicher ist." Zur Bahn von Whistler möchte er nicht viel sagen, so ein Unglück könne ja überall passieren.

Aber dann sagt er auch, dass die Entscheidung, die Strecke auf den Damenstart zu reduzieren, schon deshalb richtig gewesen sei, "weil man bei Geschwindigkeiten bis 143 km/h alles noch relativ gut kontrollieren kann, darüber aber kann es schlimme Folgen geben". Kumaritaschwili fuhr 144,3 km/h, als er stürzte.

Norbert Loch wirkt nachdenklich, als er da steht und über die Ereignisse spricht. Sein Sohn Felix ist der Führende nach den ersten beiden Läufen und an diesem Montagabend Favorit auf die Goldmedaille, aber darum geht es jetzt nicht. "Man denkt darüber nach, was passiert ist", sagt Norbert Loch, "man möchte das rekapitulieren."

"In die Normalität zurückkommen"

Am Freitag noch hat er Einzelgespräche mit den Athleten geführt, am Abend ist er allein durchs Olympische Dorf geschlendert, hat mit niemandem geredet. "Ich bin keiner, der sich hinstellt und sagt, the show must go on." Aber andererseits müsse doch weitergefahren werden, wenn sogar die Georgier das wollen, und wenn die Athleten konzentriert antreten sollen, dann müssen sie "in die Normalität zurückkommen", wie Norbert Loch formuliert.

Es wird weitergehen in Whistler und Vancouver, irgendwie, es muss. Die Vancouver Sun zitierte am Samstag Charlie Chaplin: "Smile, though your heart is aching." Lächle, auch wenn dein Herz weh tut.

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