Ewald Lienen über die EM:"Ich hätte gar keinen Bock, da zu spielen"

FC St.Pauli - Fortuna Düsseldorf

Ewald Lienen, Systemkritiker und Trainer des FC St. Pauli.

(Foto: dpa)

Zwischenruf eines Fußball-Romantikers: Ewald Lienen zeigt großes Verständnis für die Spieler, die bei dieser EM nicht ihre Topleistungen abrufen können.

Von Carsten Scheele

Zwei Nachrichten sind in diesen Tagen aus Hamburg in Richtung Frankreich geweht. Die erste: Fans des Hamburger SV haben eine lustig gemeinte Online-Petition gestartet, um Nordirlands EM-Helden Will Grigg zum HSV zu lotsen - jenen Stürmer, der in den Stadien fleißig besungen, aber trotzdem nie eingewechselt wurde.

Und die zweite: Ewald Lienen, der stets kritische Trainer des benachbarten Zweitligisten FC St. Pauli, hat sich den Fußballbetrieb vorgeknöpft und mit der EM abgerechnet, was mit einigen Tagen Verspätung auch in den sozialen Netzwerken für Aufsehen sorgte.

Warum macht er das? Lienen ist Zweitligacoach (wenn auch mit Erstligaerfahrung). Was sich bei der EM in Frankreich abspielt, das ist nicht ganz seine Liga, könnte man meinen. "In der ersten EM-Woche haben wir uns doch alle wahnsinnig gelangweilt. Ich bin auch mal eingenickt", ereifert sich Lienen markig über das Niveau der Spiele in Frankreich. Warum nur?

"Wenn ich Bastian Schweinsteiger sehe!"

Ort und Zeitpunkt von Lienens Kritik mögen überraschen, eigentlich sollte er beim Trainingsauftakt seines Klubs über die Aussichten für die kommende Spielzeit sprechen. Was Lienen, zweifellos selbst ein Fußballromantiker, sonst noch so sagt, hat jedoch einen wahren Kern - jedenfalls für alle, die nicht bloß alle zwei Jahre auf Fanmeilen die Fähnchen schwenken oder in den Funktionärsbüros bei Uefa oder Fifa sitzen.

Er wolle den Spielern bei der EM gar keinen Vorwurf machen, sagt Lienen: "Die Spitzenspieler, von denen wir hoffen, dass sie bei so einem Event Top-Leistungen bringen, die sind für mich völlig überlastet." Ein Beispiel nennt Lienen: "Wenn ich Bastian Schweinsteiger sehe! Der hat mit 31 gefühlt die Karriere eines 37-Jährigen hinter sich. Weil er jedes zweite Jahr eine EM oder WM spielt. Diese Leute können sich fast nie regenerieren oder erholen."

Das alles sei für ihn kein ganz neues Phänomen. "Unser Fußballbetrieb ist völlig aufgebauscht. (...) Ich glaube, dass unser Produkt seit Jahren immer mehr verwässert. Weil es eben nicht geht, dass du 60 oder 70 Spiele auf hohem Niveau spielen kannst. Und nochmal und nochmal und nochmal..."

Lienen, der "Systemkritiker der EM"

Lienen weiter: "Wir sitzen da alle vor dem Fernseher und denken: Klasse! Man hofft, dass etwas Gutes passiert. Wenn ich mich in den Spieler hineinversetzen würde, wäre ich froh, wenn ich nach Hause gehen dürfte. Wenn ich mal Urlaub machen dürfte. Ich hätte gar keinen Bock, da zu spielen! Das ist ein derartiger Stress, auch rein psychisch."

Dann zählt Lienen auf, was die Spieler auf sich nehmen müssten: Die lange Trennung von der Familie, die ständigen Reisen ("hin und her und vor und zurück"), das Leben in Hotels, immer wieder Trainingslager: "Und dann läufst du auf den Platz und sollst Spaß und Freude haben?", so Lienen: "Ich halte das für schwachsinnig." (Leider vergisst er zu erwähnen, dass die Spieler für ihren Aufwand finanziell einigermaßen angemessen entlohnt werden.)

Lienen vs. Fifa und Uefa

Lienen ist lange im Geschäft. Er sieht sich selbst als "kritischen Bürger", hat dies auch bei anderen Redebeträgen unter Beweis gestellt, liebevoll wird er "Chewald" genannt. Er ist in diesem Moment nicht bloß Anwalt der Spieler - er hat eine Ahnung, wo die Probleme ihre Ursache haben könnten. Von den Dachverbänden Fifa und Uefa habe er nichts anderes erwartet, "bei den Leuten, die an der Spitze der internationalen Organisationen stehen. So wie die sich ansonsten im Leben verhalten, braucht man nicht die Hoffnung haben, dass sie den Fußball so organisieren können, wie es sinnvoll wäre".

Im Netz erhält Lienen viel Zuspruch, insbesondere bei Twitter. "Immer wieder ein Mann der richtigen und wahren Worte", schreibt einer über Lienen. Die Europameisterschaft geht mit dem Finale am 10. Juli in Paris zu Ende. Den Titel "Systemkritiker der EM" dürfte Lienen bereits jetzt sicher haben.

Mit Material vom sid

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