England:Wende im Herbst

Lesezeit: 3 min

Anzugträger in Ekstase: Antonio Conte freut sich über den Titelgewinn mit dem FC Chelsea. (Foto: Anthony Devlin/AFP)

Im Vorjahr war der FC Chelsea nur Mittelmaß. Jetzt sind die Londoner wieder mal Meister in der Premier Leage - der Dank gilt vor allem Trainer Antonio Conte.

Von Sven Haist, London

Die Sache schien ganz einfach zu sein. Auf der Haupttribüne bat ein Fan um die Unterschrift von Antonio Conte, in seiner Hand hielt er bereits Stift und Stadionheft parat. Der Italiener bemerkte den Wunsch nach einem Autogramm und kam einen Schritt entgegen. Die eigene Signatur auf ein Stück Papier zu kritzeln, ist ja nur ein Aufwand von Sekunden.

England hat den Fußballtrainer Antonio Conte, 47, in dessen Debütsaison für den FC Chelsea als eine Person kennengelernt, die einen Blick für die Bedürfnisse seines Umfelds hat. An Weihnachten etwa überreichte er jedem Mitarbeiter auf der Geschäftsstelle ein kleines Präsent mit persönlicher Grußkarte. Mit dem Autogramm für den Fan klappte es allerdings nicht.

Die Aufmerksamkeit, die Conte von seinen Spielern während der Saison einfordert, erwartet er im selben Maß von sich selbst. Bis zur letzten Sekunde. Und im Moment der Signier-Nachfrage - unmittelbar vor Anpfiff des Ligaspiels bei West Bromwich - stand das spätere 1:0 und die daraus resultierende Sicherung der Meisterschaft noch nicht fest. Erst dieser Erfolg brachte dem FC Chelsea ja die entscheidenden drei Punkte ein im Titelduell mit den Tottenham Hotspur.

Zum sechsten Mal wird nun "FC Chelsea" eingraviert in die Siegerliste. Der doppelte Triumph, bestehend aus Meisterschaft und Pokalerfolg, ist weiterhin möglich. Die finanziellen Anstrengungen von Klubeigentümer Roman Abramowitsch haben sich buchstäblich ausgezahlt. Seit seiner Ankunft in London im Jahr 2003 hat Chelsea fünf Titel in der Premier League gewonnen, dazu vier FA-Cups, die Champions League und Europa League. Kein anderer englischer Verein hat in dieser Zeitspanne dieselben Erfolge vorzuweisen.

Nach den Feierlichkeiten, die Conte eine dicke Lippe und einen ramponierten Anzug einbrachten, rekapitulierte er Chelseas schwierigen Saison-Weg an die Tabellenspitze. Mit der Reputation, strauchelnde Riesen wieder aufrichten zu können (Juventus Turin, Italiens Nationalelf), hatte sich Conte bereits während seines Urlaubs im vergangenen Sommer an die Arbeit bei Chelsea gemacht. Seine Aufgabe bestand darin, den Klub zu einen. Conte übernahm die Spielstrukturen seiner Vorgänger (José Mourinho, Guus Hiddink), doch zunächst änderte sich nicht sehr viel: ein Platz im Tabellen-Mittelfeld nach sechs Spieltagen - ganz genau so wie im Vorjahr. Erst die desaströse Niederlage beim Stadtrivalen Arsenal im Herbst (0:3) bewegte Conte zur entscheidenden Umstellung: auf eine Dreierreihe in der Abwehr.

Die liebte Conte schon bei vorangegangen Stationen, und die ist international in den vergangenen Jahren zwar wieder populärerer geworden, in Italien, auch in Deutschland; aber in der sportlich so konservativen Premier League war Conte der erste Trainer, der in diesem Jahrtausend dauerhaft auf diese taktische Systematik vertraute. Auf dem Trainingsplatz verbesserte er pedantisch die Positionierung seiner Spieler. Die bis ins Detail abgestimmten Abläufe in der Defensive ermöglichten Chelseas Angriffstrio weiter vorne eine ungewohnte Entfaltungsfreiheit. Das besänftigte den Zorn von Eden Hazard (15 Tore) und Diego Costa (20 Tore). Zusammen mit Pedro hatten sie genug von den Restriktionen aus der Vergangenheit, die sie auf dem Spielfeld oftmals zu ferngesteuerten Fußballern machten. Und den Offensivspieler Victor Moses wiederum funktionierte Conte sehr erfolgreich zum rechten Flügelmann in seinem neuen System um.

Generell setzte Conte bisher lediglich 18 Profis von Beginn an ein. Ohne die Last, parallel zum Ligageschehen einen internationalen Wettbewerb bestreiten zu müssen, gewährte er sich die Annehmlichkeit, an seiner Wunschelf kontinuierlich festzuhalten. Zudem hatte er das Glück, dass sich die verletzungsbedingten Ausfälle in Grenzen hielten. In der nächsten Transferperiode muss Conte den Kader nun ausweiten, um für die Doppelbelastung aus Liga und Champions League gewappnet zu sein.

Als Vorteil könnte sich bei der Integration neuen Personals die transparente Menschenführung des Süditalieners erweisen. Dem verdienten Spielführer John Terry, der seine letzte Saison bei Chelsea bestreitet, imponierte die Ehrlichkeit, mit der Conte ihn nach einigen Spielen aus der Startelf strich. Ohne öffentliches Aufbegehren akzeptierte er - wie andere auch - einen Platz auf der Ersatzbank.

Am Sonntag bekommt Terry, 36, dafür zusammen mit Ersatzkapitän Gary Cahill die Meistertrophäe überreicht. In seinem finalen Ligaspiel für Chelsea wird ihm Conte kaum den Wunsch verwehren, noch mal zum Einsatz zu kommen.

© SZ vom 15.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: