England:Stimmungshoch abgesagt

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Ergebnistaktiker: Der englische Nationaltrainer Gareth Southgate (l.) und sein Assistent Steve Holland haben eine Marschroute durchs Turnier festgelegt – ihre Kritiker befürchten allerdings, sie hätten sich vom Fernziel Halbfinale blenden lassen. (Foto: Lee Smith/Reuters)

Friede und Freude in England nach zwei Vorrunden-Siegen? Nun ja. Vor dem Achtelfinale gerät Trainer Gareth Southgate in die Kritik.

Von Sven Haist, Kaliningrad

Am Spielfeldrand trotzte Gareth Southgate der Versuchung, seine besten Spieler einzuwechseln, als würde sie gar nicht existieren. Hinter ihm saßen der weltbekannte Harry Kane, sein Sturmpartner Raheem Sterling und Spielmacher Jesse Lingard, dazu Kieran Trippier und Ashley Young, die mit ihren Vorstößen über die Außenseiten ihre Teamkollegen mit Zuspielen versorgen - wenn sie denn spielen. Noch zwei personelle Veränderungen hätte Southgate in der Schlussphase des finalen Vorrundenduells mit Belgien am Donnerstag vornehmen können, um seine erste Pflichtspielniederlage als englischer Nationaltrainer zu verhindern. Aber ein mögliches Unentschieden war ihm offenkundig nicht so viel wert, dass er sich nun umgedreht hätte zu Kane und seinen Kollegen.

Bestimmt hätte Southgate bei einem Ausgleichstreffer für sein Team keinen Protest gegen die Wertung des Tors eingelegt. Aber für diesen Ausgleichstreffer nun die Energie seiner wichtigsten Akteure zu verschleißen - wenngleich es nur für ein paar Minuten gewesen wäre - kam ihm nicht in den Sinn. Und so wechselte Southgate den Angreifer Danny Welbeck vom FC Arsenal ein, den einzig verbliebenen englischen Feldspieler im Kader, der bei dieser Weltmeisterschaft bis dahin keinen Einsatz vorzuweisen hatte. Auf den dritten Wechsel verzichtete er ganz. England, schon vor dem Spiel fürs Achtelfinale qualifiziert, verlor 0:1. Und plötzlich führen die Engländer, die so gut gelaunt durch die ersten Turnierwochen spaziert waren, eine etwas beunruhigende Debatte. Für die meisten Fans ist Southgate ein Spielversteher. Für viele andere Beobachter ist er ein Spielverderber.

Mit der Maßnahme, gegen Belgien acht Stammkräfte durchweg zu schonen, ließ Southgate alle wissen, dass das Ergebnis für ihn nicht wie gewöhnlich oberste Priorität genoss. Dabei entschied sich immerhin in diesem Aufeinandertreffen zwischen England und Belgien, wer das Achtelfinale als Gruppenerster und Gruppenzweiter aufnimmt. In Southgates freiwilligem Verzicht auf die eigentlichen Leistungsträger sahen die englischen Fans einen "taktischen Geniestreich", in den sozialen Medien adelten sie die Niederlage gar als "bestens getarnte Leistung". Schließlich trifft England dadurch am Dienstag auf Kolumbien, ehe im Erfolgsfall der Gewinner aus der Partie Schweiz gegen Schweden auf die Three Lions warten würde. Für die Anhänger ist klar: So sieht der ideale Turnierzweig ins Halbfinale aus. Mit einem sogenannten Titelfavoriten müsste sich England nämlich auf seiner eingeschlagenen Route nicht auseinandersetzen. Belgien könnte im Viertelfinale auf Brasilien treffen.

"Das war ein Spiel, das wir gewinnen wollten", sagt Southgate - aber nicht alle glauben ihm das

Die englische Fachpresse reagierte auf die Reserveformation allerdings mit Kopfschütteln. Im Guardian war zu lesen, die Niederlage habe den Engländern das Momentum gekostet, das die beiden Auftakterfolge über Tunesien und Panama erzeugt hätten. Rund um das Team sei Luft entwichen, urteilte die einflussreiche Times den unkonventionellen Beschluss von Southgate ab. Auf der Pressekonferenz wehrte Southgate die Kritik mit seinen Argumenten ab, die ihn zu dieser Entscheidung bewogen hatten. Gegen den allgemeingültigen Hinweis, die Stammspieler vor Verletzungen bewahren zu wollen und die Reservisten mit einem Einsatz bei Laune zu halten, war natürlich kaum etwas einzuwenden. Bloß stellte sich halt die Frage, ob das unbedingt jetzt der Fall sein musste, wo England dabei war, in ein Stimmungshoch zu geraten.

In der Diskussion, in der sich erst nach dem nächsten Spiel sagen lässt, wer richtig oder falsch liegt, unterlief Southgate ein womöglich gravierender Fehler. "Das war ein Spiel, das wir gewinnen wollten, aber das anstehende Ausscheidungsduell ist das wichtigste Spiel für uns der vergangenen Dekade", sagte Southgate, "wir mussten sicherstellen, dass die Spieler gesund bleiben. Manchmal muss man eben ans Gesamtbild denken." Die Rechtfertigungsrede lieferte den Beweis, dass Southgate insgeheim bereits anfing, das Achtelfinale zu coachen, bevor das letzte Vorrundenduell überhaupt zu Ende war. Sowas, wird nun in der Heimat kommentiert, könnten sich vielleicht die Titelfavoriten leisten, aber nicht England. In diesem Jahrtausend tat sich das Mutterland des Fußballs wahrlich nicht mit besonderen Siegen hervor. Bei der Reise durch Welt- und Europameisterschaften unterlief der Nationalelf eine Panne nach der anderen. Ins Halbfinale eines Turniers hat es England zuletzt vor 22 Jahren geschafft, der einzige Triumph ereignete sich bei der Heim-WM 1966.

Und so steht die junge Elf gegen Kolumbien plötzlich doch schon unter Druck, eine positiv begonnene Weltmeisterschaft vor dem Verriss bewahren zu müssen. Denn auch wenn alles so schön aussah: Bei einem Ausscheiden hätte England mit einem Last-Minute-Sieg über Tunesien und einem Erfolg über die fußballfernen Panamaer in diesem Turnier nicht viel mehr erreicht als in der jüngeren Vergangenheit. Zumindest, was die Ergebnisse betrifft.

© SZ vom 01.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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