England:"Herzzerreißender Moment"

Lesezeit: 3 min

Arm in Arm gegen den Terror: Die Nationalspieler aus England und Frankreich demonstrieren ihre Einigkeit vor dem Länderspiel in London. (Foto: John Sibley/Reuters)

Die Anteilnahme der Nachbarn bewegt die französischen Fußballer.

Von Raphael Honigstein, London

Als "technisch schwierig" hatte Englands polyglotter Nationaltrainer Roy Hodgson vorab die Verse der Marseillaise eingestuft. Viele englische Zuschauer hatten sich dennoch aufrichtig bemüht, aus Solidarität mit den Gästen die französische Nationalhymne mitzusingen. Der noch lautere Ruf zu den Waffen erschallte im rot-weiß-blau beleuchteten Wembley-Stadion allerdings nach der Musik. 71 000 Zuschauer brüllten begeistert, trotzig, stolz auf sich selbst und auf die wuchtig zelebrierten Werte der Brüderlichkeit und Freiheit, als sich die beiden Mannschaften Arm in Arm zu einem gemischten Teamfoto unweit der Gedenkkränze für die Opfer der Terroranschläge in Paris postierten. Die anschließende Schweigeminute am Mittelkreis war in ihrer absoluten Stille niederschmetternd. Allein die Rotoren des Polizeihubschraubers knatterten sanft irgendwo oben, im windumtosten Himmel.

"Das war ein herzzerreißender, besonderer Moment der Gemeinschaft", sagte später der erschöpft wirkende Coach der Franzosen, Didier Deschamps, sehr blass: "Wir möchten uns bei den Leuten in Wembley und dem ganzen Land für die Unterstützung bedanken. Es gab eine sportliche Seite, aber ich denke, die menschliche Dimension dieser Veranstaltung hat heute eine viel größere Bedeutung gehabt."

Der französische Verband, teilte Hodgson mit, habe nach dem Horror des vergangenen Freitags in Paris auf der Austragung des Freundschaftsspiels bestanden - als Zeichen der Normalität und Renitenz; die Spieler wurden dabei nicht befragt. Man wolle zeigen, dass sich die Welt weiter drehe und gegen den Terror stünde, betonte Englands Kapitän Wayne Rooney. Das von schwer bewaffneten Anti-Terror-Einheiten bewachte Spiel war ein symbolisches Statement - und deswegen mit dem Anpfiff im Grunde schon wieder vorbei.

Zu einem Fußballspiel waren "Les Bleus" kaum in der Lage

Hodgsons Elf hatte sich ausdrücklich vorgenommen, nach den "Bekundungen des Respekts, der Solidarität und der Einheit" auch Fußball zu spielen, erklärte der 68-Jährige, zu Letzterem waren Les Bleus aber nur sehr bedingt in der Lage. Zu Trauer und Trauma nach den fürchterlichen Geschehnissen am Stade de France und in der Pariser Innenstadt kam am Dienstagabend die kaum zu bewältigende Rührung über die Anteilnahme der Briten hinzu.

Als gefühlsstark sind die Nachbarn von der anderen Seite des Ärmelkanals ja in Frankreich nicht verschrien. "Ich hatte Tränen in den Augen, wie meine Mannschaftskameraden", sagte Bacary Sagna, der bei Manchester City in der Premier League engagierte französische Verteidiger: "Es ging gar nicht anders. Alle haben geweint."

Die zutiefst beunruhigenden Nachrichten der Absage aus Hannover hatte Deschamps, 47, seinem Team vor dem Anpfiff absichtlich vorenthalten, denn die Atmosphäre war in London für seine Männer "bereits bedrückend genug, wir hatten schon genug durchgemacht". Für den unerschütterlichen Hodgson war die Spielabsage in Hannover dagegen kaum der Rede wert: "Wir haben auf das Sicherheitskonzept der Behörden im Wembley vertraut und uns nicht anders als sonst verhalten."

Englands "Business as usual"-Professionalität hatte auf dem Rasen schnell zu deutlicher Überlegenheit geführt. Youngster Dele Alli (19, Tottenham Hotspur) wurde wegen seines Treffer als sportlicher Gewinner der Partie gefeiert, aber als Arsenals Laurent Koscielny kurz nach der Pause vor dem 2:0 unter einer Flanke durchsprang und sich danach nicht einmal mehr zum Torschützen Rooney umdrehte, war wohl dem letzten Besucher klar geworden, dass die Franzosen an diesem ungewöhnlichen Abend nicht zum Gegner taugten.

Für Diarra und Griezmann gab es Bewunderung und Applaus

Die Gastgeber wollten den Franzosen in der Folge nicht mehr unnötig wehtun, und die englischen Fans wussten daraufhin nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollten. "Steht auf, wenn ihr Isis hasst", intonierte eine Gruppe junger Männer in der Kurve mit klassisch britischem Halbernst, aber es wollte keiner mitsingen.

Umso lauter fiel der bewundernde Applaus aus, als Lassana Diarra (Marseille) und Antoine Griezmann (Atlético Madrid) auf den Rasen kamen - zwei Spieler, die persönlich von den Attentaten betroffen sind. Griezmanns Schwester war unverletzt aus dem angegriffenen Bataclan-Klub entkommen, Diarras Cousine starb in der Rue Bichat: "Diarras Präsenz war wichtig für uns", sagte Deschamps, "wir stehen vereint gegen einen Horror, der keine Hautfarbe und keine Religion hat, für Liebe, Respekt und Frieden", hatte der 30 Jahre alte Mittelfeldspieler zuvor bewegend verkündet. All dies gelang in London ganz eindrucksvoll. Aber für den jetzt dezidiert in die Kampflinie geratenen Lieblingssport der Welt war die brüderliche Nacht im Wembley kein Triumph, sondern wohl nur der Anfang einer schwierigen, beklemmenden Normalität.

© SZ vom 19.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: