England:Es ist Liebe

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Mit Souveränität und Vertrauen führt Trainer Southgate die englische Elf - und wird so selbst zu einem Kultobjekt.

Von Sven Haist, Samara

Die Zugabe stand noch aus. Wie Zuschauer nach einem großen Opernstück konnten die englischen Fans von ihrer Nationalmannschaft nicht genug bekommen. Mit Applaus und Gesang forderten sie die Protagonisten weit nach Mitternacht auf, erneut in Erscheinung zu treten, obwohl die ihre Ehrenrunde schon längst absolviert hatten. Einer nach dem anderen gingen die Spieler also noch mal über den Rasen, nur Gareth Southgate als englischer Nationaltrainer wollte zunächst nicht aus der Kabine kommen.

Wegen des erfolgreichen Verlaufs dieser WM haben sich ein paar heimische Fans die Mühe gemacht, den kitschigen Liebessong "Whole Again" der britischen Musikgruppe Atomic Kitten auf den Trainer Southgate umzudichten. Die Version eroberte im Nu das Internet, die Erstaufführung im Stadion stand allerdings noch aus. Um Southgate zum Umdenken zu bewegen, zogen die Fans ihren Trumpf, sie gaben ihre Hommage zum Besten, die nur wirkt, wenn man sie im Englischen liest: "Looking back on when we first met, I cannot escape and I cannot forget. Southgate, you are the one, you still turn me on. Football is coming home again."

Mit dieser Einlage hatte Southgate nicht gerechnet. Emotional berührt von so viel Zuneigung lief er schließlich für ein paar Minuten alleine auf die Fans hinterm Tor zu, klatschte ihnen Beifall, dirigierte den Chor, bevor er sich in den Gefühlen schwelgend dazu hinreißen ließ, ein kleines bisschen zu tanzen. In den Armen seiner Familie auf der Tribüne schloss er danach die Augen. Für Southgate waren das fraglos die schönsten Sequenzen seiner Trainerkarriere, wenn nicht gar die schönsten Sequenzen seines Fußballerlebens. In Erinnerung aus seiner Spielerlaufbahn blieb bisher ja vorwiegend der entscheidende Fehlversuch im Elfmeterschießen beim Aus im Halbfinale der EM 1996 gegen Deutschland. Dies sei "etwas, womit ich auf ewig leben muss", sagte er mal.

Auch als Alleinunterhalter geeignet: Gareth Southgate genießt den Erfolg im Elfmeterschießen im Achtelfinale gegen Kolumbien in vollen Zügen. (Foto: Ryan Pierse/Getty Images)

Durch das gewonnene Elfmeterschießen seines Teams gegen Kolumbien im Achtelfinale der aktuellen WM hat sich Southgate, 47, nun mit der eigenen Historie versöhnen können. Nach dem letzten Schuss hielt ihn in der Trainerzone nichts mehr auf den Beinen, an Ort und Stelle sank er in sich zusammen. Wenn ihn seine Assistenten nicht festgehalten hätten, wäre er gestürzt. "Im Leben bekommt man nicht immer, was man verdient. Heute haben wir es bekommen", sagte Southgate.

Im Duell mit den Schweden am Samstag in Samara besteht für England die Chance, nach 28 Jahren mal wieder das Halbfinale einer WM zu erreichen. Das gelang bislang nur Alf Ramsey als Weltmeister 1966 und Bobby Robson, der mit England 1990 in der Vorschlussrunde an Deutschland scheiterte. Wegen dieser historischen Chance geht der Kult um Southgate inzwischen sogar so weit, dass seine an den Spieltagen obligatorisch getragene blaue Weste auf der Insel zum Verkaufsschlager avanciert ist.

Als ehemaliger Nationalverteidiger mit 57 Länderspielen widerlegte Southgate früher das Klischee des knallharten englischen Abwehrspielers, der sich vor dem eigenen Tor hauptsächlich mit Grätschen in Szene setzt und dann hohe Flugbälle nach vorne bolzt. In 16 Jahren spielte Southgate von 1990 bis 2006 für die Arbeiterklubs Crystal Palace, Aston Villa und FC Middlesbrough, und er spielte dabei vorwiegend mit Köpfchen. "Gareth war ein fairer Verteidiger, der genau wusste, wann er einen Zweikampf zu führen hat. Das soll aber nicht heißen, dass er in den Duellen zurückgezogen hat", sagt Thomas Hitzlsperger. In der Saison 2000/01 spielte der damals 18 Jahre alte Hitzlsperger bei Villa mit dem erfahrenen Southgate in einer Mannschaft, am Telefon gewährt er nun einen Einblick in die Zusammenarbeit: "Mein Eindruck war, dass ich mit Gareth über vieles sprechen konnte und er jeweils einen Tipp parat hatte. Etwas, das über die üblichen Floskeln hinausging. Er hat sich Zeit genommen für junge Spieler und war interessiert, ihnen ernsthaft weiterzuhelfen." Bei jeder seiner Stationen wurde Southgate zum Kapitän gewählt, der Verantwortung für seine Mitspieler war er sich stets bewusst. "Ihm gelingt es, eine Führungsfigur zu sein, ohne Sprüche klopfen zu müssen. Das ist angenehm, weil er ein Kontrast darstellt zu den Draufhauern in England, die ständig beweisen müssen, wie hart sie sind. Ihm hört man wegen seiner natürlichen Autorität und Artikulation sowieso zu", sagt Hitzlsperger.

(Foto: SZ-Grafik)

Mit dieser Art von Einfühlungsvermögen versucht Southgate nun seinen Spielern in der Nationalelf das zu geben, was ihm selbst auf Spitzenniveau manchmal verwehrt geblieben ist: Vertrauen und Wertschätzung. Bei der WM 2002 blieb Southgate im englischen Kader außen vor, spielte keine Minute. Diese Erfahrung überträgt sich jetzt auf sein Handeln als Trainer bei den Three Lions.

"Seine meiste Energie hat Gareth darauf verwendet, ein Zugehörigkeitsgefühl im Team zu schaffen und einen Schulterschluss mit den Fans herzustellen. Die Spieler können sich mittlerweile füreinander freuen, was in der Vergangenheit bei England eher selten der Fall war", sagt Hitzlsperger.

Vor dem Gruppenspiel gegen Belgien jährte sich zum zweiten Mal die Pressekonferenz des englischen Fußballverbands nach dem inzwischen legendären Achtelfinal-Aus gegen Island bei der EM 2016. Als Nachfolger des zurückgetretenen Roy Hodgson wurde Southgate ins Spiel gebracht, der damals die englische U21 erfolgreich trainierte. Nach der Entlassung auf seiner ersten Trainerstation bei Middlesbrough im Oktober 2009 zögerte Southgate und lehnte die Beförderung erst mal ab. Erst nach dem Scheitern des 67-Tage-Trainers Sam Allardyce übernahm Southgate das Amt im Herbst für vier Spiele auf Probe, bis er zwei Monate später endgültig zusagte. "Das ist eine besondere Seite an ihm. In England gibt es nicht wenige, die sofort sagen würden: Ich nehme den Job an, ich kann das, ich mache das, es gibt keinen Besseren als mich. Er gehört vermutlich zu denen, die Demut vor dem Amt des Nationaltrainers hatten und erst mal überlegen mussten, ob sie für die Aufgabe gerüstet sind", sagt Hitzlsperger.

In dieser Woche soll der Verband eine vorzeitige Vertragsverlängerung mit Southgate bis zur WM 2022 in Katar in Erwägung gezogen haben, sofern die Qualifikation für die nächste EM gelingt. Wieder so eine Zugabe, die Gareth Southgate eigentlich nicht ablehnen kann.

© SZ vom 07.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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