England bei der Fußball-EM:Der alte Rooney und die jungen Löwen

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Richtungsweisend: Der 22 Jahre alte Harry Kane sagt seinem erfahreneren und acht Jahre älteren Spielkameraden Wayne Rooney, wo es lang geht. (Foto: Andy Rain/dpa)
  • England geht mit so viel Vorfreude wie schon lange nicht mehr in ein Turnier.
  • Aber warum garantiert Trainer Roy Hodgson dem Alterspräsidenten Wayne Rooney einen Stammplatz?

Von Raphael Honigstein, Paris

Rustenburg (Südafrika 2010) war zu isoliert, Krakau (Polen 2012) zu laut, Rio am Strand von São Conrado (2014) zu laut und dabei doch irgendwie zu isoliert.

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Seit Englands vermeintlich goldene Generation bei der WM 2006 in Deutschland in einem Dunst aus Spielerfrauen-Partys und Fünf-Sterne-Ennui in Baden-Baden der Glanz abhanden kam, sind die Wohnverhältnisse der Auswahl mit dem "Drei Löwen"-Trikot ein bestimmendes Thema auf der Insel.

In Frankreich nun hat sich Roy Hodgsons Kader im schönen Städtchen Chantilly einquartiert, eine halbe Stunde nördlich von Paris. Dort schimmern die Häuser wie die gleichnamige Sahne in der Juni-Sonne, und die interne Stimmung soll laut übereinstimmenden Berichten aus der Mannschaft in diesen Tagen zunächst einmal spitze sein wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

In Chantilly soll die ohne großen Druck angereiste Mannschaft Ruhe und Zerstreuung zugleich finden, vor allem aber eine gewisse Normalität. "Wir sagen den Spielern: Bitte geht raus und trinkt mal einen Kaffee mit Freunden und Familie. Es gibt eine Welt da draußen, die nicht nur Fußball ist", sagt der frankophile Trainer Roy Hodgson, 68: "Wir wollen eine Umgebung schaffen, die sich nicht wesentlich vom normalen Leben der Spieler unterscheidet. Weil wir Leistungen fördern wollen, die sich nicht wesentlich von den Leistungen aus der Premier League unterscheiden." Business as usual lautet die dazugehörige Strategie auf dem Rasen.

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England scheint demnach fest entschlossen zu sein, die miserable EM-Bilanz (neun Siege in 27 Spielen) mit jugendlicher Energie und urbritischem Elan aufzupolieren; genügend aufregende Offensivkräfte stehen zur Verfügung. Gegen Russland werden Samstagabend unter anderem der englische Torschützenkönig Harry Kane, 22, und der talentierte Mittelfeldmann Dele Alli (20, beide Tottenham Hotspur) ihr Turnierdebüt geben.

Was die meistdiskutierte Personalie auf der Insel angeht, so wird Hodgson insgeheim jedoch eher nicht darauf hoffen, dass Wayne Rooney seine Form aus der Liga mit auf die andere Seite des Ärmelkanals gebracht hat. Englands Kapitän spielte unter dem Niederländer Louis van Gaal, dem jüngst geschassten Trainer von Manchester United, in der abgelaufen Saison so, als hätte ihn Hypnos, der griechische Gott des Schlafes und der Faulheit, persönlich in die Wade gebissen.

"Egal, ob Roy mit einem, zwei oder drei Angreifern aufläuft - Wayne hat seinen Startplatz nicht verdient", sagt Radiokommentator Stan Collymore und weiß dabei Volkes Meinung hinter sich.

Rooney, 30, der sich in Ermangelung von Explosivität am Ball als Elder statesman im offensiven Mittelfeld neu erfunden hat, würde New England im Weg stehen, murrt die Basis. Darüber hinaus erinnert er als letzter Verbliebener aus der Beckham-Lampard-Gerrard-Ära das Publikum unangenehm an all die Enttäuschungen und Peinlichkeiten der vergangenen Jahre.

Gegen diesen Hype von einst wollen Hodgsons Junglöwen in Frankreich explizit anspielen. Und Rooneys Rolle hat sich einschlägig verändert: Nach drei Mittelfußbrüchen und anderen Verletzungen ist aus Englands einst so wildem Versprechen ein Stammspieler von Trainers Gnaden geworden, dessen Aufstellung im ersten Spiel laut Daily Mail "russischem Roo-lette" gleichkäme.

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"Wayne Rooney ist nicht mehr der Spieler, der er früher war", hat auch Russlands Nationalcoach Leonid Sluzki befunden. Er hat den englischen Rekordtorschützen diesbezüglich mit dem lange bei ZSKA Moskau tätigen Brasilianer Vagner Love verglichen: "Früher war er ein brillanter, schneller Stürmer, heute organisiert er in der Zentrale."

Eine derartige Einlassung eines Gegners wäre vor ein paar Jahren einer fürchterlichen Majestätsbeleidigung gleichgekommen, erntet aber heute in England stillschweigende Zustimmung.

Seit er 2004 bei der EM in Portugal als 18-Jähriger gegnerische Abwehrreihen zerfetzte, vier Tore schoss und England fast zum ersten Titelgewinn seit 1966 führte, ist Rooney nie mehr richtig in Fahrt gekommen. Und mit ihm die Mannschaft nicht. Null Tore, null Tore, ein Tor, ein Tor lautet seine Bilanz aus den vergangenen vier Wettbewerben. Die EM 2008 verpasste England sogar.

Hodgson hat Rooney trotz des heftig tobenden Bildersturms in der Heimat den Einsatz garantiert, System und Aufstellungen seien zunächst zweitrangig, meint er. "Wir reden hier über einen Spieler, der 111 Mal für England aufgelaufen ist und dabei 53 Tore erzielte", erwiderte er nach dem müden Freundschaftskick gegen Portugal (1:0) ungehalten den Reportern - Rooneys "beste Position" sei "überall auf dem Platz". Nicht mehr lange. Die EM ist Rooneys letzte Chance, der eigenen Verheißung gerecht zu werden. Als Anführer, den die Gefolgschaft längst überholt hat.

© SZ vom 11.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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