Eiskunstlauf:Flugshow mit Bruchlandungen

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Um die eigene Achse souverän ins Ziel gekreiselt: Nathan Chen aus den USA. (Foto: Antonio Calanni/AP)

Die Kür des Eiskunstlauf-Weltmeisters Nathan Chen wird begleitet von vielen Stürzen der Konkurrenten. Weil der künstlerische Aspekt verloren geht, werden Reformen gefordert.

Von Barbara Klimke, Mailand

Angekündigt war ein internationaler Wettkampf auf Kufen mit Musik, aber Nathan Chen hatte seine eigene Vorstellung von dem Nachmittag in Mailand: Er hat eine Flugshow daraus gemacht. Einen langen Anlauf nahm er auf der Eispiste, hob ab und drehte sich viermal um die eigene Achse. Das wiederholte er sechs Mal. Als er zum letzten Mal sicher wieder aufsetzte auf der Start- und Landebahn unterm Dach des Mediolanum Forums, war er erstmals Weltmeister, erstaunlicherweise nicht im Kunstflug, sondern in der guten alten Sportart Eiskunstlauf.

Kein anderer Sportler außer Nathan Chen, 18, aus Salt Lake City, hat jemals sechs Vierfachsprünge in einer viereinhalb Minuten langen Kür ohne Bruchlandung vollbracht. Außer ihm beherrscht auch niemand sonst diese spektakulären Risikoelemente in einer derartigen Variationsbreite. Er zeigte den Lutz, den Flip, den Toeloop und den Salchow aus seinem Repertoire, zum Teil sogar in Sprungkombinationen; nur einmal, beim Salchow, kam er einen kurzen Moment minimal ins Straucheln; "es gibt immer noch etwas zu perfektionieren", sagte er lapidar. Und weil er auch ausgezeichnete Pirouetten dreht, verlieh ihm das Wettkampfgericht 321,40 Punkte: Das waren erstaunliche fünfzig Punkte mehr, als den beiden hinter ihm platzierten Athleten zugestanden wurden, Shoma Uno aus Japan, der bei Olympia im Februar Dritter geworden war (273,77), und Michail Koljada aus Russland (272,32). Vielleicht hätte Japans Olympiasieger Yuzuru Hanyu ihm Paroli bieten können; aber der größte Zauberer unter den Eisartisten kuriert derzeit eine Knöchelverletzung aus; er fehlte bei der WM ebenso wie der sechsmalige spanische Europameister Javier Fernandez.

Nach dem Sturz-Spektakel werden Reformen gefordert: Mehr Kunst, weniger Athletik!

In Abwesenheit der beiden großen Künstler wurde diesmal in Mailand der Blick auf die Techniker gerichtet - und auf den Umstand, dass der Kunstlauf sich in jüngster Zeit in den Sprunglauf verwandelt hat. Nathan Chen ist der Motor der Entwicklung: Er war zwar nicht der erste Mensch, der vierfach um die eigene Achse spindelte - die Welturaufführung wird dem Kanadier Kurt Browning zugeschrieben, der bereits 1988 der staunenden Öffentlichkeit bei der WM einen Vierfach-Toeloop vorführte. Aber Chen jagt nun die Drehzahl in der Entwicklung hoch: Bereits vergangenes Jahr präsentierte er bei den US-Meisterschaften fünf Vierfachsprünge in der Kür; bei den Winterspielen in Pyeongchang versucht er dann erstmals sechs: Schon das war eine kleine Sensation, aber weil Chen im Kurzprogramm in Korea dreimal stürzte, sich vor dem Finale auf Rang 17 wiederfand und die angestrebte Goldmedaille verfehlte, zählten nur noch wenige Experten mit.

Aus seinem olympischen Malheur habe er gelernt, ließ der Perfektionist wissen, der auch im größten Triumph kühl und unaufgeregt blieb: "Ich habe erreicht, worauf ich meine ganze Karriere lang hingearbeitet habe, und darüber bin ich froh." Chen, der aus einer Akademikerfamilie mit chinesischer Herkunft stammt, stand schon mit drei Jahre auf dem Eis; als Zehnjähriger galt er als klavierspielendes und eislaufendes Wunderkind, dem der Sender ABC eine Filmdokumentation widmete; seitdem hat er an der Ballettstange und in der Halle seine Sprung- und Schritttechnik vervollkommnet. Und so konnte er relativ gelassen verfolgen, wie die Rivalen übers Eis stolperten beim Versuch, auch nur halbwegs den neuen Flugstandard zu erreichen, den er seinem Sport vorgegeben hat.

Denn für den Rest der Konkurrenz stand die Kür unter dem Motto: Schöne Stürze mit Musik. Michail Koljada rutschte beim Vierfach-Lutz aus. Shoma Uno, der leicht verletzt in den Wettkampf ging, saß in der Kür dreimal auf dem Hintern, beim Vierfach-Rittberger und beim Vierfach-Flip. Der Chinese Boyang Jin, Vierter nach dem Kurzprogramm, ging fünf Mal zu Boden und schlitterte im Klassement auf Rang 19. Cleverer machte es der deutsche Meister Paul Fentz, 25, aus Berlin, der sich an dem Überbietungs-Wettkampf gar nicht erst beteiligte. Fentz hat nur einen Vierfachsprung, den Toeloop, im Repertoire, den er nahezu sauber zur Landung brachte. Der Lohn war Rang 15, die beste WM-Platzierung seiner Laufbahn.

Eine Zierde für den Sport war das Sturz-Spektakel nicht. Der Eislauf-Weltverband ISU wird sich deshalb beim nächsten Kongress überlegen müssen, ob er weiter Wettbewerbe sehen will, die nach dem Muster des Shorttrack verlaufen: Es gewinnt derjenige, der am Schluss noch aufrecht steht - der Rest rutscht in die Bande. Das Verletzungsrisiko ist enorm. Und nebenbei geht der künstlerische Aspekt verloren. "Die Entwicklung ist so rasant verlaufen, dass wir gegensteuern müssen", sagt Elke Treitz, Vizepräsidentin der Deutschen Eislauf-Union. Mehrere Vorschläge werden die ISU-Delegierten im Juni in Sevilla diskutieren: Denkbar ist, die Gesamtzahl der Vierfachsprünge zu limitieren; oder die Wiederholungen eines Sprungs, als Solo-Element und in der Kombination, zu untersagen. Sinnvoll hält Treitz die bereits beschlossene Wertungsänderung, die den Punktespielraum der Preisrichter pro Element erweitert, von -3 bis +3 auf künftig -5 bis +5. Derzeit ist der Bonus für einen Vierfachen so hoch, dass es sich für die Läufer mitunter gar lohnen kann, zu stürzen.

Schnelles Handeln sei angeraten, sagt Elke Treitz. Denn die Flugshow auf dem Eis wird weitergehen. Chen hat schon angekündigt, dass er womöglich bald einen Fünffachsprung probiert.

© SZ vom 26.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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