Dortmund:Die Gedanken sind frei

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Im Vorjahr drohte zur Weihnachtszeit noch der Abstieg, jetzt steht der BVB nach dem Sieg im Pokalspiel gegen Augsburg weiter in drei Wettbewerben.

Von Kathrin Steinbichler, Augsburg

Thomas Tuchel strich sich im Presseraum des FC Augsburg über sein Kinn, während er mit gesenktem Blick sprach. Dann führte er die Hand weiter zum Kopf und tastete kurz, als suche er dort etwas. Plötzlich blickte der Trainer von Borussia Dortmund in die Runde und fragte: "Was wollte ich sagen?"

Die Gedankenwelt des Thomas Tuchel ist eine gefragte und zugleich selten von Außenstehenden bereiste Gegend. Manchmal ist Tuchel so sehr darin verstrickt, dass die Verbindung nach außen etwas Geduld braucht. Was weniger daran liegt, wie viel Tuchel preisgibt, als daran, dass Tuchel meist über andere Dinge nachdenkt als über die, die gerade in der Öffentlichkeit besprochen werden. Manchmal führt das zu dem Problem, dass Dortmunds Trainer Fragen gestellt bekommt, auf die es seiner Meinung nach keine Antworten gibt.

"Wir haben sogar mehr Tore geschossen als die Bayern", frohlockt Sportdirektor Zorc

Wie denn angesichts des 2:0-Pokalerfolgs in Augsburg und der insgesamt gelungenen Hinrunde sein Fazit ausfalle, wurde Tuchel gefragt. Das war der Punkt, an dem der sonst so sprachgewandte Trainer erst den Faden und dann die Worte verlor. "Ich mache das nicht so gerne", meinte Tuchel über das Bilanzieren. Noch stünde ja vor der Winterpause ein Ligaspiel an am nächsten Samstag. "Ein Resümee werde ich also, wenn es überhaupt Sinn macht, nach dem Spiel in Köln ziehen." Die Partie könne ungeachtet ihres Ausgangs"natürlich nicht alles zerstören", was die Borussia in diesem Halbjahr unter Tuchel geschafft hat, aber "als Trainer fühlt man sich nicht so wohl damit, ein Fazit zu ziehen, wenn es noch nicht aus ist", bekräftigte Tuchel. "Das ist, als wenn man sich in der 70. Minute zurücklehnt und denkt, in der 80. kann nichts mehr passieren." Und wenn es nach Thomas Tuchel geht, ist die Dortmunder Mannschaft in ihrer Entwicklung vielleicht gerade mal in der zweiten Halbzeit.

Im vergangenen Winter noch drohte die Welt der Dortmunder Borussia unterzugehen. Der letzte Spieltag vor der Winterpause brachte damals ein 1:2 bei Werder Bremen, der Champions-League-Finalist von 2013 begrüßte das Jahr 2015 auf einem Abstiegsplatz, die Teilnahme am internationalen Geschäft stand in den Sternen. Immerhin im DFB-Pokal konnte sich die Mannschaft von Jürgen Klopp zu alten Höhen aufschwingen, wenngleich es am Ende nur zur Finalteilnahme, nicht aber zum Titel reichte. Jetzt, ein Jahr später, hat Dortmund nicht nur einen neuen Trainer, sondern auch ein neues Selbstverständnis.

Für die Öffentlichkeit ist das Arbeitszeugnis von Tuchels Borussia an den Statistiken abzulesen, dort steht: Tabellenplatz zwei in der Bundesliga mit neun Punkten Vorsprung und Einzug ins DFB-Pokal-Viertelfinale, wo es nun gegen den VfB Stuttgart geht; im Februar stehen in der Zwischenrunde der Europa League die Duelle mit dem FC Porto an. "Wir können in jedem Pokal und bei jedem Titel vorne dabei sein. Wenn wir weiter unsere Arbeit machen, dann sind wir auf jeden Fall schwer zu schlagen", ist Mittelfeldspieler Julian Weigl überzeugt. "Wir haben sogar mehr Tore als der FC Bayern geschossen", freut sich Sportdirektor Michael Zorc mit dem Verweis auf die Ligabilanz, wo der BVB vorerst als einzige Mannschaft behaupten darf, dem fünf Punkte entfernten FC Bayern im Nacken zu sitzen.

Thomas Tuchel aber wollte weiter nichts hören von einem ersten Fazit seiner noch kurzen Amtszeit. "Noch gibt es da nichts zu bilanzieren", findet er. Angesichts der überschwänglichen Freude im Dortmunder Umfeld über das Auftreten der Mannschaft ist Tuchels Nüchternheit vielleicht ganz gut. Als er nach Dortmund kam, musste er nicht nur einen Trainer, sondern eine Kultfigur ersetzen. Von Kulten aber hält Tuchel herzlich wenig. Wer einen Kult betreibt, hört auf zu denken.

"Das Wichtige ist, dass wir uns nicht limitieren in unseren Gedanken", sagt Trainer Tuchel

Im Pokalspiel gegen Augsburg etwa tat Dortmund sich lange schwer, was, wie Tuchel anerkannte, "auch der mutigen und aggressiven Verteidigung des FC Augsburg geschuldet" war. Also stellte er zur zweiten Halbzeit um, rückte Henrikh Mkhitaryan im Mittelfeld einige Meter nach hinten, zog Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang neben Adrian Ramos wieder mehr in die Mitte. Prompt traf Aubameyang nach einer Stunde mit seinem 27. Pflichtspieltor dieser Saison zur Führung, Mkhitaryan ließ kurz darauf das 2:0 folgen. Dass sich der Sieg am Ende "so dominant und so klar und so verdient anfühlt", sei "eine absolute Topleistung", lobte Tuchel. Sein erstes halbes Jahr bei der Borussia mag vorbei sein, aber er will noch immer am liebsten über den Fußball seiner Mannschaft sprechen, nicht über die Ergebnisse. Und zum Fußball gehört in seinen Augen mehr als das, was man beim Zuschauen sehen kann.

Beim ersten Innehalten vor der Winterpause fühlt sich die Lage der Borussia für den Trainer nicht nur "gut an, weil wir in allen drei Wettbewerben eine sehr gute Rolle spielen". Sondern auch, "weil die Mannschaft Moral zeigt, weil sie Charakter zeigt, weil wir sehr fokussiert sind und uns, finde ich, auf einen tollen Weg begeben haben". Wohin dieser Weg führt? "Das weiß ich nicht", sagte Tuchel: "Das Wichtige ist, dass wir uns nicht limitieren in unseren Gedanken." Die neue Dortmunder Dominanz braucht keine Etiketten, keine Worte. Nur Gegner, mit denen sie sich messen kann.

© SZ vom 18.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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