Champions League:Höchster Wellengang

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"Eine größere Enttäuschung kann ich mir nicht vorstellen": Nach der Halbfinal-Niederlage tränkt Kiels Dominic Klein das Trikot mit Tränen. (Foto: Juergen Schwarz/Getty)

Kiels verbockte Saison erfährt im Champions-League-Halbfinale ihren tragischen Höhepunkt: Gegen Veszprem reicht eine Zwei-Tore-Führung kurz vor Schluss nicht zum Endspiel-Einzug.

Von Ulrich Hartmann, Köln

18 Sekunden waren noch zu spielen, als Christian Dissinger dem THW Kiel alle Chancen auf den erfreulichen Ausgang einer enttäuschenden Saison hätte wahren können. Dissinger hätte den Ball bloß ins Tor des MVM Veszprem werfen müssen - aber er tat es nicht. Er warf vorbei. Sechs Sekunden waren noch zu spielen, als auch der Torwart Niklas Landin dem THW die Chance auf den erfreulichen Ausgang dieser enttäuschenden Saison hätte wahren können. Er hätte dazu bloß den Ball von Veszprems Gaspar Marguc parieren müssen - aber das gelang ihm nicht.

Eine 25:23-Führung 80 Sekunden vor dem Ende der regulären Spielzeit hat den Kielern am Samstagabend nicht gereicht. Bei 25:25 nach 60 Minuten mussten sie im Halbfinale der Champions League in eine Verlängerung, an deren Ende es 28:31 (25:25, 15:12) stand. Völlig unnötig.

Damit holt der Branchenprimus Kiel erstmals seit 2003 keinen einzigen Titel, und erstmals seit 1989 (Minsk gegen Bukarest) stehen weder ein spanisches noch ein deutsches Team im Endspiel der Handball-Champions-League. Dort messen sich am Sonntagabend (18 Uhr, Sky) der polnische Meister Kielce und der ungarische Meister Veszprem. Kiel und Paris spielen ab 15.15 Uhr das Spiel um Platz drei aus.

"Eine erfahrene Mannschaft bringt das 20 Sekunden vor Schluss nach Hause", sagte der Kieler Trainer Alfred Gislason nach dem Spiel mit matter Stimme. "Wir waren über die regulären 60 Minuten hinweg die bessere Mannschaft und hätten den Sieg bis dahin verdient gehabt - umso bitterer ist es, dass wir es noch so hergeschenkt haben. Wir haben Veszprem in die Verlängerung geradezu eingeladen."

Sieben Angriffe in Serie ohne Torerfolg

Schon eine 5:2-Führung, die die Kieler binnen furiosen ersten sechs Minuten herausgespielt hatten, war nicht zu halten gewesen. Veszprems überragender Rückraum mit dem baumlangen Laszlo Nagy und den beiden ehemaligen Kielern Aron Palmarsson und Momir Ilic tat gewissenhaft seine Arbeit. Nachdem Kiel acht Minuten lang kein Tor mehr gelungen war, lagen die Ungarn in der 14. Minute mit 6:5 vorne. Das Spiel drohte früh komplett zu kippen. Doch dann stabilisierten sich die Norddeutschen, die auf Steffen Weinhold (Handbruch), Blazenko Lackovic (nicht spielberechtigt) und Rene Toft Hansen (Kreuzbandriss) verzichten mussten. Torwart Niklas Landin parierte mehr und mehr Bälle.

Kurz nachdem der genesene deutsche EM-Held Dissinger ins Spiel gekommen war, brachte er die Kieler mit dem 11:9 in der 23. Minute wieder mit zwei Treffern Vorsprung in Führung. Die rotgekleideten Veszprem-Fans waren in der mit fast 20.000 Zuschauern gefüllten Arena in der Überzahl. Kiels Rückraum-As Domagoj Duvnjak musste die eigenen Fans zwischendurch aufrütteln. Immerhin, es half zunächst. Zur Pause hatten die Kieler ihren Vorsprung wieder auf drei Tore (15:12) ausgebaut.

Doch der Start in die zweite Halbzeit war aus Kieler Sicht niederschmetternd. Die ersten sieben Angriffe brachten alle nichts ein. Veszprem glich in dieser Phase aus (15:15) und ging in der 38. Minute sogar mit 17:15 in Führung. Handball mit höchstem Wellengang - und ansteigender Hitze. Es wurde rustikal. Die Kieler Deckung offenbarte Löcher, während der Offensive zeitweise die Puste ausging. Es war das 55. Pflichtspiel der Saison. Nach einer Viertelstunde stand es in der Nettowertung der zweiten Halbzeit 2:7.

In der Verlängerung bricht Kiel regelrecht ein

Doch heftiger Wellengang bringt alles von unten auch wieder nach oben. Duvnjak glich zum 19:19 aus (47.), Marko Vujn zum 20:20 (48.) - nun stand das Duell minutenlang auf der Kippe. Kiels Joan Canellas musste für zwei Minuten vom Feld. Der THW überstand die kritische Phase aber schadlos. Fünf Minuten vor Schluss stand es 22:22, Landin parierte einen Nagy-Wurf, im Gegenzug brachte Vujn die Kieler wieder in Führung. Es hätte die Schlusspointe eines an Wendungen reichen Spiels werden können, doch bei 25:24 blieben hinten und vorne Chancen ungenutzt - und in der zehnminütigen Verlängerung brach der THW regelrecht ein. "Eine größere Enttäuschung ausgerechnet zum Abschied kann ich mir nicht vorstellen", schniefte Kiels Dominik Klein, der ins französische Nantes wechselt.

Im ersten Halbfinalspiel am Samstagnachmittag hatte der polnische Meister Kielce überraschend das französische Millionenteam Paris St. Germain mit 28:26 besiegt und war erstmals in der Vereinsgeschichte ins Endspiel der Champions League eingezogen. Der bis Samstag letzte polnische Finalist war Danzig im Jahr 1987 gewesen. "Das war nicht genug von meiner Mannschaft", klagte der Pariser Trainer Noka Serdarusic. "Wir haben eine der besten Mannschaften der Welt mit einem der besten Trainer der Welt besiegt", jubelte hingegen Kielces Trainer Talant Duschebajew und freute sich auf ein spannendes Duell mit Veszprem am Sonntagabend. Von Vorfreude aufs kleine Finale konnte bei den Kielern keine Rede sein. Zum dritten Mal binnen vier Jahren müssen sie ins Spiel um Platz drei. 2013 und 2015 haben sie es verloren, und auch diesmal dürfte es ihnen schwer fallen, sich noch einmal aufzuraffen.

© SZ vom 29.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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