Champions League:Ein Hoch auf die Irrationalität

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Uli Hoeneß sitzt wieder am Cheftisch und die Spielentscheidung erzwingt der unberechenbare Vidal: Der Halbfinaleinzug erinnert die Bayern an die guten alten Zeiten.

Von Claudio Catuogno, Lissabon

Vitória, der Vereinsadler mit den Schnipseln an den Klauen, drehte schon seine fünfte Runde im Estádio da Luz, das Vereinslied erscholl aus 60 000 Kehlen - und vielleicht hat Uli Hoeneß in diesem Moment ja schon wieder eine seiner Ideen gehabt. Wie man den tollsten Verein der Welt noch ein bisschen toller machen kann, das ist ja quasi sein Lebensmotto - und zumindest, was die Inszenierung der eigenen Größe angeht, ist da in der Arena der Münchner Bayern noch Luft nach oben, verglichen mit dem, das sie am Mittwochabend bei Benfica Lissabon erlebten, im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League.

Wahrscheinlicher ist, dass Hoeneß den Moment einfach genossen hat. Um ihn herum zückten die Menschen ihre Smartphones und filmten den Adlerflug. Dazwischen stand er, ein freier Mann im Pullover. Für Hoeneß war es die erste Champions-League-Reise seit Februar 2014, er hat sie, jedenfalls den sichtbaren Teil, im Zustand des stillen Vor-sich-hin-Lächelns verbracht. Später, beim Mitternachtsbankett, hat er den meisten Applaus bekommen, mehr als die Mannschaft, die dank eines 2:2 (1:1) gerade zum fünften Mal hintereinander in die Runde der besten Vier eingezogen war. Hoeneß erhob sich kurz, eine leichte Verbeugung, und dann hat der Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge auch schon sein Rotweinglas erhoben und gesagt, Hoeneß sei "so was wie ein Glücksbringer" und auch beim anstehenden Halbfinal-Ausflug "herzlich willkommen".

Ein Glücksbringer. Wenn sich nicht alle, die mit ihm zu tun haben, sehr irren, ist Uli Hoeneß schon bald wieder deutlich mehr als nur das Bayern-Maskottchen, das mit am Präsidententisch sitzen darf.

Journalisten sind beim Bayern-Bankett nicht mehr zugelassen, unter anderem, weil sie immer gerne notiert haben, ob mal einer auf dem Weg zu den Aufzügen heimlich links abgebogen ist. Aber man kann sich die Bilder im Vereins-TV anschauen. Hoeneß, wie er in der Mitte des Festsaals wieder neben Pep Guardiola sitzt. Die Reise nach Lissabon hat sich für die Bayern-Granden definitiv ein bisschen wie früher angefühlt. Und dazu passte, dass der FC Bayern diese Viertelfinal-Mission gegen Benfica auch ein bisschen wie früher für sich entschieden hat.

Freie Schussbahn, exquisit genutzt: Arturo Vidal (rechts) erzielt, beobachtet von Victor Nilsson-Lindelöf, den Ausgleich für den FC Bayern. (Foto: Miguel A. Lopes/dpa)

Wie genau? Das auszudeuten, ist jetzt die Aufgabe des Sportvorstands Matthias Sammer. Er trägt lieber Krawatte als offenen Kragen, und die Stunden nach dem Abpfiff hat er im Zustand des Schwärmens verbracht. Der Halbfinal-Einzug: "Großes Kompliment an die Spieler, dass sie nie den Hunger verlieren, das ist Wahnsinn." Der junge Joshua Kimmich: "Willensstark und trotzdem bescheiden, eine Wahnsinns-Mischung." Der Trainer Guardiola: "Findet immer die richtigen Worte." Und ist damit natürlich auch Wahnsinn, was sonst.

Aber all das hätte im Estádio da Luz nicht ausgereicht, gäbe es da nicht auch eine, wie Sammer es ausdrückte, "gewisse Irrationalität in unserem Spiel, was uns gut tut". Weil diese Irrationalität "dir weiterhilft in Phasen, wo du planmäßig alles tun willst, es aber nicht richtig geht".

Man dürfe jetzt "ohne Arroganz ein bisschen träumen", sagt Klubchef Karl-Heinz Rummenigge

Wenn man das dem Planmäßigkeitsfetischisten Pep Guardiola vor knapp drei Jahren gesagt hätte, dass er seine letzte Chance auf den Gewinn des Henkelpotts mit den Bayern einer "gewissen Irrationalität" verdanken würde - er hätte sein Amt womöglich gar nicht antreten wollen.

Man muss wohl einschränkend dazu sagen, dass mit dem Lob auf die Irrationalität weder Manuel Neuer noch Javier Martínez gemeint waren. Neuer hat schlecht ausgesehen, als er vor dem 0:1 (Raúl Jiménez, 27.) unentschlossen am Ball vorbei sprang. Und Martínez packte eine üble Grätsche aus und hätte dafür wohl Rot gesehen - wäre nicht Philipp Lahm eifrig in Richtung Grundlinie gesprintet, um Martínez nicht allzu offensichtlich als letzten Mann aussehen zu lassen. Talisca besorgte zwar anschließend per Freistoß das 2:2 (76.) - Martínez blieb aber auf dem Feld und darf auch im Halbfinale gegen ManCity, Atlético oder Real Madrid wieder mitwirken.

Handfeste Argumente: Bayern-Trainer Pep Guardiola erklärt Uli Hoeneß den Lauf der Welt. Und vielleicht nebenbei, dass sie rund ist. (Foto: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Gemeint war eher jene Form Irrationalität, die ins Geniale lappt. Auch die Bayern können ja in engen Momenten nicht nur ihren klaren (Ballbesitz-)Plan gebrauchen, sondern darüber hinaus einen Spieler, der sich über dieses System erhebt. Einen wie den Chilenen Arturo Vidal.

Dass Vidal beim FC Bayern ein entscheidender Faktor geworden ist, ist keine ganz neue Erscheinung: Er hatte schon beim 1:0 im Hinspiel getroffen, und er hat zuletzt diverse Ligaspiele geprägt mit seiner furchterregenden Furchtlosigkeit; das letzte in Stuttgart (3:1) so sehr, dass Guardiola ihn nach 26 Minuten auswechseln musste wegen Platzverweis-Gefahr. Diesmal war er es, der - gemeinsam mit dem Vorlagengeber Philipp Lahm - die Wende erzwang, per Volleyschuss in den Winkel (38.). Also, Herr Sammer, bitte weiterschwärmen: "Arturo ist in Top-Verfassung, er schießt entscheidende Tore, er gewinnt entscheidende Zweikämpfe, er ist präsent, er ist unberechenbar, ich finde für alle Beteiligten, weil er ein Stück weit irrational spielt, das macht das Ganze interessant."

Dem eigentlichen Unberechenbarkeits-Spezialisten Thomas Müller, der diesmal Robert Lewandowski als Mittelstürmer ersetzte, fehlt gerade ein bisschen die Bindung zum Spiel - auch wenn er in Lissabon das 2:1 erzielt hat (52.). Und wenn man das jetzt alles zusammennimmt, ein Kollektiv, das selbst in der Raubtier-Kulisse in Lissabon einen kühlen Kopf bewahrt, dazu den irrationalen Kämpfer Vidal, dann darf man, so Rummenigge, "ohne Arroganz ein bisschen träumen". Nämlich davon, dass der FC Bayern nach 2001 auch 2016 wieder das große Finale in Mailand erreicht.

© SZ vom 15.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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