Brasilien:Schädliche Dribblings

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Neymar (r.) humpelt am Dienstag nach wenigen Minuten vom Trainingsplatz. (Foto: Andre Penner/AP)

Brasilien diskutiert über Neymar, aber nicht nur wegen seiner möglichen Verletzung: Der Stürmer soll öfter den Ball abspielen und weniger Alleingänge machen.

Fragt man einen Brasilianer, was "fominha" bedeutet, antwortet er: Einer, der dir den Ball nicht abgibt. Der aufs Tor schießt, obwohl alle besser stehen. Eben einer, der im Mannschaftssport Individualist ist. "Neymar, o fominha" - der Ballhungrige, liest, sieht und hört man seit Sonntag, seit dem 1:1 gegen die Schweiz, immer mehr in Brasiliens Medien. Im Auftaktspiel der Selecao bei der WM in Russland war der Stürmer von Paris St. Germain bei 10 der 19 Fouls der Schweizer das Opfer, verbrachte den Tag danach komplett mit den Physiotherapeuten, humpelte im Training nach nur wenigen Minuten vom Platz. Und so bleibt er bis zum Duell am Freitag in St. Petersburg mit Costa Rica das Frage- und Ausrufezeichen Brasiliens.

Doch statt lähmenden Entsetzens, wie nach seinem Wirbelbruch bei der WM im eigenen Land 2014, weshalb er das Halbfinale mit dem 1:7-Debakel gegen Deutschland verpasst hatte, macht sich am Zuckerhut eher Unmut breit: "Neymar entzieht sich der Philosophie Tites", klagt das Online-Portal UOL. Die Tageszeitung Zero Hora kommentiert gar: "Brasiliens Star schadet dem Team mit seinen übertriebenen Dribblings."

Gegen die Schweiz ging er 28 Mal ins Eins-gegen-eins - mehr als doppelt so oft wie seine Mitspieler

Im September vergangenen Jahres, als der Stürmer gerade für 222 Millionen Euro nach Paris gewechselt war, stellte Barcelonas Präsident Josep Maria Bartomeu nüchtern klar: "Natürlich ist es besser, talentierte Spieler im Team zu haben. Für Barca ergibt sich aber nun die Möglichkeit, mit dem Dreigestirn Messi-Suarez-Neymar zu brechen und auf ein mannschaftsdienlicheres Spiel zu setzen." Wie es auch Selecao-Coach Tite nach langen Jahren der "Neymardependencia", der Abhängigkeit von einem durch Werbefilme, Extravaganz und Geschichten wie die Promi-Liebschaft mit dem nationalen Fernsehsternchen Bruna Marquezine aufgebautem Produkt, fordert. Ohne Neymar gewann die Selecao 2018 den schweren Test bei WM-Gastgeber Russland (3:0) und die Revanche gegen Deutschland (1:0), mit Toren von ihm gegen Kroatien (2:0) und Österreich (3:0). Gegen die Schweiz suchte Neymar 28 Mal die Eins-zu-Eins-Situation, mehr als doppelt so viel wie die Nummer zwei in der Statistik, Willian. Die Konzentration der Verteidigung auf ihn schafft theoretisch Lücken, praktisch bleiben aber er, sein Körper und damit auch der Ball zu oft an den gegnerischen Beinen hängen.

"Ich denke, er sollte kollektiver spielen", sagte Altstar Careca schon vor dem Turnier

Vor der WM äußerte bereits Altstar Careca Unwillen. "Ich denke, er sollte kollektiver spielen, weil es dann auch ihm leichter macht, eine bessere Leistung zu zeigen. Er wird gejagt und muss deshalb die Verantwortung abgeben", sagte der zweimalige WM-Teilnehmer. Aber Neymar verteidigt sich: "Sie treten mich, ich spiele Fußball. Sie provozieren mich, aber das kann ich auch, auf meine Art und Weise, mit dem Ball", äußert der PSG-Superstar eher uneinsichtig. Ob ihn jetzt die Verletzung, als Folge der Operation des gebrochenen rechten Fußes oder nach dem Pressschlag auf den Knöchel des schon lädierten rechten Beines, anders als viele seiner Gegenspieler stoppen kann, werden die nächsten Tage zeigen.

© SZ vom 21.06.2018 / sid - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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