Brasilien:Einer muss es ja machen

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Rent a Torwart: Im Fußball-Land hat sich der Miet-Torhüter als neues Geschäftsmodell etabliert. Es ist ein Job ohne Urlaubsanspruch und Kündigungsschutz, aber krisensicher.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

In dem Büchlein mit dem Titel "Richtig Torwarttraining" steht: "Der Torhüter teilt das Schicksal der Hausfrau. Macht er alles richtig, lobt ihn niemand, macht er einen einzigen erkennbaren Fehler, kriegt er großen Ärger." Dieses Buch ist - wie am Hausfrauen-Gleichnis unschwer zu erkennen - schon etwas älter. Die Charakterisierung des Fußball-Torwarts als Einsiedler gilt aber weiterhin. Er soll, wenn er nicht gerade Manuel Neuer heißt, gefälligst unter seiner Querlatte bleiben, verhindern und ansonsten besser nicht auffallen. Er ist der geborene Spielverderber - zumindest in Brasilien. Dort, im sogenannten Land des Fußballs, gibt es den Spruch: "Verdammt ist der Torhüter; wo er hintritt, da wächst kein Gras mehr."

Der Satz geht auf den Komiker Don Rossé Cavaca zurück. Der ist schon lange tot, sein böser Witz lebt weiter. Er wird immer wieder gerne zitiert, um die besonders betrübliche Existenz des brasilianischen Torstehers zu erklären. Nicht alle Brasilien-Klischees stimmen, aber manche stimmen eben doch. Stürmer werden dort vergöttert, offensive Mittelfeldspieler verehrt, defensive Mittelfeldspieler mitunter respektiert, Verteidiger als notwendiges Übel betrachtet. Und Torhüter?

"Die gehören eigentlich gar nicht dazu." Das sagt der Torwart João Paulo Oliveira Silva aus Rio de Janeiro. Für ihn ist das aber kein Problem, sondern die Grundlage für ein Geschäftsmodell.

Die Seele des brasilianischen Fußballs ist weder seine zuletzt rührend erfolglose Seleção noch sein heruntergewirtschafteter Ligabetrieb. Die Seele des brasilianischen Fußballs ist der informelle Kick, der privat organisierte Straßenfußball, die Brasilianer sagen "Pelada". Gespielt wird überall und rund um die Uhr. Morgens in den Favelas, mittags an den Stränden, nachts in den Kunstrasenkäfigen der Stadtparks. In Rio hat nahezu jede Berufsgruppe ihren festen Bolztermin. Es gibt die Pelada der Apotheker, die Pelada der Anwälte, die Pelada der Sambatrommler und die Pelada der Oberkellner. Viele Brasilianer glauben fest daran, dass ihre Pelada-Kultur die Erklärung dafür liefert, weshalb sie mit Bällen besser umgehen können als der Rest der Menschheit. Da mag sich ein romantisches Ideal mit realen Elementen mischen. Fest steht, dass es bei den Peladas keinen Konzeptfußball und keine Matchpläne gibt. Es wird gedribbelt und gezaubert, wie das Herz es begehrt, und nur in Notfällen wird abgespielt. Jeder Hackentrick ins Aus zählt mehr als ein Kurzpass zum nächsten freien Mann. Auch herkömmliche Treffer werden bejubelt, als sei gerade das 1:0 in der 90. Minute gefallen. In der Regel spielen sechs oder sieben Stürmer gegen sechs oder sieben Stürmer.

Ganz und gar sinnlos, geradezu absurd erscheint es vielen Brasilianern, sich bei solch einer Pelada ins Tor zu stellen.

Aber einer muss den Job ja machen. Oliveira ist 26 Jahre alt und hütet schon sein halbes Leben lang Tore. Seit ein paar Jahren verdient er damit Geld. Vier bis fünf Abende pro Woche und ganze Sonntage verbringt er auf einem der unzähligen Bolzplätze von Rio de Janeiro, viele seiner Mitspieler kennt er nicht einmal vom Namen. Er lässt sich von ihnen die Bälle um die Ohren hauen, hält, was zu halten ist, und hofft, dass ihm keine allzu offensichtlichen Schnitzer unterlaufen. Damit keiner meckert, wenn er die Rechnung stellt.

Und wenn die Hobbytruppe dann frisch geduscht beim halbgefrorenen Bier zusammensitzt, ist Oliveira schon wieder unterwegs zur nächsten Pelada. Die Geschäftsidee ist so einfach wie einleuchtend, sie heißt: Rent a Torwart.

40 Reais, nach gegenwärtigem Kurs etwa zehn Euro, verlangt Oliveira für anderthalb Stunden Torwartdienst. Die Kunden haben damit ein zentrales Problem vom Hals, nämlich die traditionell streitintensive Debatte um die Frage: Wer stellt sich ganz hinten rein? In weiten Teilen Rios hat es sich fest eingebürgert, von jedem Feldspieler vor Anpfiff ein paar Münzen oder kleine Scheine einzusammeln, um zwei Miet-Torhüter zu buchen. Fall erledigt. Auf diese Weise ist in Brasilien ein neues, informelles Berufsbild entstanden: der Profi-Keeper im Hobbyfußball.

"Drei Stunden Fußball sind zwei Sack Zement": João Paulo Oliveira Silva, Häuslebauer und Miet-Torhüter. (Foto: Boris Herrmann)

Sie kommen aus den Favelas in den Hügeln oder aus den flacheren Armensiedlungen der Nordzone. Und sie sind untereinander vernetzt. Oliveira hat mit fünf weiteren Keepern eine Art Genossenschaft gebildet. Wenn einer ausfällt, wird der nächste verständigt, damit keine Tore leer bleiben, wo gekickt werden soll. Das gehört zum Service. "Wir können unsere Jungs nicht hängen lassen", sagt Oliveira.

Wenn er zwei Peladas pro Abend spielt, kommt er auf 80 Reais. Und wenn er das vier Mal in der Woche macht, dann liegt er am Monatsende schon deutlich über dem brasilianischen Mindestlohn (knapp 800 Reais). Oliveira sagt: "Für mich ist das ein zweiter Arbeitsplatz." Es ist eine Arbeit ohne Urlaubsanspruch und Kündigungsschutz, und doch gibt sie dem Familienvater Oliveira ein Gefühl von Sicherheit im Krisenstaat Brasilien. Er sagt sich: Gekickt werden wird immer.

Tagsüber arbeitet er als Schweißer in einer Autowerkstatt. Da bekommt er auch nicht viel mehr als den gesetzlich vorgeschriebenen Minimalsatz. Das reicht gerade so, um seine Kleinfamilie zu ernähren. Den Rest finanziert er sich als Miethüter.

Oliveira wohnt noch bei seiner Mutter am Rande von Rios Vorstadt Nilópolis. Keine Favela im klassischen Sinne, aber auch weit entfernt von jeglichem Mittelschichten-Komfort. Die Häuser dort sind größtenteils unverputzt, die Stromkabel an den Holzmasten zu wilden Kunstwerken verknotet, hier und da muss man aufpassen, keine Hühner zu überfahren.

In Oliveiras Kinderzimmer hängen keine Torwarttrikots, keine Poster, keine Autogramme. Das könnte daran liegen, dass er sich den höchstens zehn Quadratmeter großen Raum mit seiner Frau, mit seinem sechsjährigen Sohn und mit seinem Bruder teilt. Zwei schmale Betten und zwei Matratzen passen da gerade so rein, dass noch die Tür aufgeht. Da bleibt wenig Platz für persönliche Gestaltungselemente. Im Übrigen wüsste Oliveira auch gar nicht, welchen Torwart-Starschnitt er eigentlich aufhängen sollte.

Wer in Deutschland das Tor hütet, der kann sich zum Beispiel - je nach Altersklasse - an Manuel Neuer, Oliver Kahn, Sepp Maier oder Toni Turek orientieren. Das sind Respektspersonen, manche würden sagen: Helden. Der bekannteste Torhüter der brasilianischen Fußballgeschichte heißt Moacyr Barbosa. "Der Arsch der Nation", sagt Oliveira. Ein Leben lang wurde Barbosa ein vermeintlicher Fehlgriff bei der WM 1950 zur Last gelegt. Damals hatte Brasilien den fest eingeplanten Titel vor 200 000 Menschen im Maracanã von Rio gegen Uruguay verloren, was wahrlich nicht nur am letzten Mann lag. Aber so wurde es immer wieder erzählt. Barbosa starb 2000 verarmt und vereinsamt.

Er hinterließ den bitteren Satz: "In Brasilien ist die Höchststrafe 30 Jahre Gefängnis, meine dauert schon 50 Jahre."

Seit 1987 wird der Torwart des Jahres gewählt, ein Brasilianer hat noch nie gewonnen

Sicher, im Lauf der Jahrzehnte gab es auch gute, sehr gute, selten sogar herausragende brasilianische Torhüter. Dida, Júlio César, Rogério Ceni, Marcos, Taffarel natürlich. Aber keiner von ihnen schaffte es in den Stand des Superhelden. Die Fifa kürt seit 1987 den besten Torwart des Jahres, ein Brasilianer hat noch nie gewonnen. Der aktuelle Nationaltorhüter heißt Jefferson, er spielte zuletzt mit Botafogo in der zweiten brasilianischen Liga.

An einem Dienstagabend im Dezember sitzt João Paulo Oliveira Silva in einer Umkleidekabine im Stadtteil Cidade Nova und bereitet sich auf seine nächste Pelada vor. Er war noch kurz unter der Dusche, um den Schweiß aus der Schweißerei und aus dem überfüllten Linienbus abzuwaschen. Zwei Stunden ist er von Nilópolis unterwegs, damit er sich in Cidade Nova drei Stunden ins Tor stellen kann. Meistens kommt er erst weit nach Mitternacht nach Hause. Sonntags steht er um fünf Uhr auf, weil er um sieben in Manguinhos bei der "Pelada da Madrugada" im Einsatz ist, beim traditionellen Morgenkick. Es gibt gemütlichere Jobs als den des Miethüters, aber da muss Oliveira jetzt eben durch. Er baut für seine Familie gerade ein kleines Haus. Nach und nach, soweit das Geld reicht. Er sagt: "Drei Stunden Fußball sind zwei Sack Zement."

Oliveira war auch mal Stürmer, natürlich, wie alle. Torhüter wurde er seiner Mutter zuliebe. Die arbeitete früher in einem Sozialprojekt mit Jugendlichen, die gerne Fußball spielten, aber auch nie ins Tor wollten. Dort ist er als braver Sohn manchmal eingesprungen und merkte bald, dass er mehr Talent in den Händen als in den Füßen hat. Eine Weile spielte Oliveira in den Nachwuchsteams größerer Klubs, aber für die klassische Profikarriere hat es nie gereicht. "Meine Trainer sagten immer zu mir: Du bist nur 1,75 Meter. Such' dir was anderes!" So fand er zu seiner ganz speziellen Profikarriere.

Er hält einen Strafstoß, schaut sich um und schießt den Ball nach vorne - ins Tor

Es gibt Tage, da ist es auch ihm ein Graus, im Tor zu stehen. Da greift er zwei, drei Mal daneben, wird vier, fünf Mal beschimpft und ahnt, wie sich Barbosa gefühlt haben mag. Es gibt aber auch Tage, da läuft es wie an diesem Dienstag im Dezember: Oliveira hält einen Strafstoß fest, schaut sich kurz vergeblich nach einem freien Mitspieler um und schießt den Ball einfach nach vorne. Klar, es gehört Glück dazu und ein träumender Kollege auf der Gegenseite, aber Fakt ist, dass der Ball direkt im anderen Netz landet. Und dass seine Kunden ihn für einen Moment lang feiern, als wäre er ihr Mitspieler.

An diesem Abend wird der Torwart João Paulo Oliveira Silva auf dem Heimweg sagen: "Manchmal verstehe ich gar nicht, warum das keiner machen will."

© SZ vom 24.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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