Borussia Dortmund:Lieb in die Falle gelaufen

Lesezeit: 3 min

Die offensive Spielidee des Trainers Peter Bosz hat eine Kehrseite. Beim 1:3 in Tottenham patzt zwar auch der Referee - schuld ist aber der BVB.

Von Philipp Selldorf, London

Sokratis Papastathopoulos hielt den größten aller möglichen Abstände von den Leuten, die seinen Namen riefen, und dazu setzte er eine Miene auf, die selbst bewaffnete Straßenräuber von ihm fern gehalten hätte. Die Dortmunder Journalisten, die in der Interviewzone des Londoner Wembley-Stadions beinahe lieblich nach ihrem "Papa" verlangten? Luft für den Verteidiger, nicht existent. Ein paar Schritte noch, dann hatte er sie hinter sich gelassen, dann saß er im Bus mit der Aufschrift "Echte Liebe" und beendete damit einen Arbeitstag, der nicht nur für Borussia Dortmund, sondern auch für ihn persönlich missglückt war.

Der griechische Abwehrspieler hatte nach dem 1:3 (1:2) zum Champions-League-Start bei Tottenham Hotspur keine Lust über den Lauf der Dinge zu reden, und es war keineswegs so, dass ihm deswegen jemand böse gewesen wäre. Es wurde anerkannt, dass er ein Recht auf seine schlechte Laune hatte. Ohnehin ist ja Sokratis der Typus von Fußballer, auf den sich letztlich alle einigen können: immer motiviert, mitreißend, kämpferisch und nicht ohne Raffinesse. Ein Klischee des ehrlichen Verteidigers allerdings erfüllt er eher nicht: Er ist hart gegen andere, aber er mag es nicht, wenn andere hart gegen ihn selbst sind, oft geht er dann zu Boden und sucht den Beistand des Schiedsrichters. Und eben darüber wurde unter anderem am Mittwochabend debattiert, als es galt, die Niederlage zu erklären, die für den BVB in der Schlussrechnung der Vorrundengruppe H ein Problem darstellen könnte.

Sokratis war der erste Dortmunder, der hinfiel, als der englische Nationalstürmer Harry Kane in der eigenen Hälfte seine Ein-Mann-Invasion startete, die erst im Strafraum der Borussen und dort mit dem Schuss zum 2:1 (15. Minute) für Tottenham endete. Es begann mit einem Gerangel um den Ball, das Sokratis mit einem sehenswerten Sturz zu beenden suchte. Den Schiedsrichter Gianluca Rocchi überzeugte er damit aber nicht.

Obwohl Aubameyangs 2:2 nicht galt, waren Vorwürfe an den Schiedsrichter Selbstbetrug

Nächste Station war Dortmunds Mittelfeld-Mann Nuri Sahin, der sich im Zweikampf schon den Vorteil verschafft hatte, den Kane dann aber beiseiteschob wie einen lästigen Gegenstand - und wieder hatte der Schiedsrichter nichts zu beanstanden. Manchem Betrachter unter den offiziell 67 000 Zuschauern ging in diesem Moment der Fachbegriff "internationale Härte" durch den Kopf.

Durch Piszczeks Beine mitten ins Dortmunder Herz: Harry Kane erzielt sein zweites Tor gegen die Borussia. (Foto: Ian Kingston/AFP)

Sahin hat später erklärt, er lasse sich da auf keine Diskussion ein: "Foul ist Foul", sagte er, "ob in England, in der Bundesliga oder in der Champions League." Die Frage dazu war: Hatte er auf den Schiedsrichter vertraut und damit falsch kalkuliert?

Dass derselbe Tatbestand je nach Liga und Wettbewerb unterschiedlich bewertet wird, hat noch keine Studie belegt, es gehört aber zum anerkannten Erfahrungswissen. Und es war auch keine Sinnestäuschung, dass Sahin in der Szene aussah wie jemand, der sich selbst umgeworfen hatte. Sahin gab zu, er habe "das Foul ziehen" wollen und sich zu diesem Zweck fallen lassen: "Ich kann den Ball auch ins Aus spielen", sagte er, aber er verließ sich darauf, dass der Schiedsrichter Kanes Einsatz als Foul werten würde. Ein Irrtum: "Da waren wir zu lieb", sagte Peter Bosz.

Zu lieb ist übrigens eine gnädige Formulierung gewesen. Zwar gab es für die Dortmunder einen konkreten und folgenschweren Anlass für Vorwürfe gegen den italienischen Schiedsrichter Rocchi - bei Aubameyangs regelgerechtem, aber nicht anerkanntem Tor zum 2:2 (56.). Dennoch begingen die Borussen Selbstbetrug, als sie allesamt, der Sportchef Michael Zorc vorneweg, die Schuld beim Schiedsrichter suchten. In Wahrheit hatte der BVB das Spiel verloren, weil er sich von Tottenham in die Falle hatte locken lassen.

Was der Abwehrspieler Ömer Toprak später als Dortmunder Dominanz und Spielkontrolle rühmte, das war das Ergebnis eines methodischen Rückzugs der Engländer. "Sie haben uns sozusagen den Ball überlassen", räumte Sahin ein. Immer weiter vorwärts rückten die Borussen gegen den tief stehenden Gastgeber und öffneten dadurch weite Räume in ihrer Abwehrhälfte, die Sokratis und Toprak nicht sichern konnten, weil ihnen bei den Gegenangriffen die nötigen schnellen Beine fehlten. Ob man auf des Gegners Platz nicht ein wenig zu optimistisch vorgegangen sei? "Das ist die Art und Weise, in der wir Fußball spielen", antwortete Sahin.

Nicht erfreut über die Treffer von Kane: BVB-Trainer Peter Bosz. (Foto: Andrew Couldridge/Reuters)

Wohlwollend lässt sich dazu sagen, dass der neue Trainer Bosz beim BVB eine klare Spielidee verfolgt: Offensive zuerst, lautet der Kern seiner ehrenwerten Überzeugung, die mitunter abgekoppelten Defensivkräfte nennt er bezeichnenderweise "Restverteidigung". An ihr wird die Kehrseite der idealistischen Herangehensweise des Trainers offenbar, und das generell hohe Betriebsrisiko verschärft sich dadurch, dass es der BVB-Defensive an Tempo und Schlagkraft mangelt.

Tottenhams Coach Mauricio Pochettino, der seiner Elf üblicherweise ebenfalls ein stürmisches Spiel befiehlt, wusste das am Mittwoch auszunutzen. Hilfestellung leistete zudem noch BVB-Torwart Roman Bürki, der zwei Mal falsch in seinem Wembley-Tor stand. Es klang nach vergiftetem Trost, als Sahin sagte, er sei "der Letzte, der Roman einen Vorwurf macht".

Die Liaison zwischen Bosz und dem BVB ist noch jung, und dies war lediglich der erste Spieltag in Europa, doch nach den bisher eher sprunghaften Auftritten der wieder drastisch runderneuerten Mannschaft ist klar, dass sich der Dortmunder Fußball noch in einer Art Rohbauzustand befindet.

Bis zum Wiedersehen mit Tottenham im Dezember sollten weite Teile des Gebildes fertig sein, ansonsten wird die Champions League in Dortmund bald zum Fernsehprogramm.

© SZ vom 15.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: