Bastian Schweinsteiger:Besser drauf als 2014

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Spielt er? Wird er überhaupt rechtzeitig fit für die EM in Frankreich? Und wie genau weiß Trainer Joachim Löw Bescheid? Bastian Schweinsteiger bleibt ein Rätsel.

Von Philipp Selldorf, Ascona

Bastian Schweinsteiger, so viel lässt sich zweifelsfrei übermitteln aus dem Trainingslager des Nationalteams im Tessin, vermag sich ungehindert mit beiden Beinen fortzubewegen. Er humpelt nicht, und er braucht keine Gehhilfen. Auch weist er augenscheinlich keine äußerlichen Mängel auf, und seine geistige Wahrnehmung der realen Gegenwart ist, soweit feststellbar, ungetrübt. Viel mehr Erhellendes allerdings hat die Öffentlichkeit nicht erfahren während der fünf Tage, die der 31 Jahre alte Kapitän bisher mit der DFB-Auswahl in Ascona verbracht hat. Was die Aussichten auf seine Einsatzfähigkeit bei der EM betrifft, ist er eine rätselhafte, vielfältig deutbare Erscheinung geblieben.

Daran haben auch Schweinsteigers Berichte zur Lage des geschundenen Körpers nicht viel geändert: "Bin sehr zuversichtlich. . . bin voll im Plan. . . das letzte MRT bei Doktor Müller-Wohlfahrt sah sehr gut aus . . . werde mich peu à peu nach vorn arbeiten" - so hätte es wohl noch lange weiter gehen können. Als er merkte, dass er sich etwas klarer ausdrücken sollte, sagte er: "Vor zwei Jahren war ich in noch schlechterem Zustand als jetzt." Damals reichte es zu einem ritterlichen Heldenkampf im WM-Finale. Aber das ist eben zwei Jahre her. Im August wird Schweinsteiger 32 Jahre alt.

Jeden Tag lauteten die Fragen im Pressezelt am stillgelegten Flughafen von Ascona, wie es dem Reha-Patienten Schweinsteiger gehe, und ob es denn reichen werde für die am kommenden Dienstag um Mitternacht unwiderruflich endende Nominierungsfrist, und jeden Tag kamen von den Mitgliedern des Trainerstabes andere Antworten, die nur eines gemein hatten: Sie bewegten sich im Ungewissen. "Ich gebe ihm die Zeit, die er braucht", hat Bundestrainer Joachim Löw gesagt und darauf verwiesen, dass Schweinsteiger immerhin sein Ausdauerprogramm bedienen könne.

Die Summe von Schweinsteigers Einsatzzeiten in diesem Jahr beträgt 110 Minuten

Anderntags berichtete Thomas Schneider, Löws Assistent, es sehe "wirklich sehr, sehr gut aus" um den Kapitän: "Basti hat zwei harte Einheiten hinter sich und später noch ein paar Bälle mit mir gespielt." Wieder einen Tag später erzählte Torwarttrainer Andreas Köpke, er könne nichts Neues mitteilen, und am Samstag hieß es, dass sich der mutmaßlich Genesende an der Seite von Marco Reus im "Fitnesszelt" betätigt habe. Beide Spieler durften sich die Reise nach Augsburg zum Spiel gegen die Slowakei am Sonntag ( nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe, Anm.) sparen, sie sollten das Wochenende zur Aufbauarbeit nutzen.

Im Falle Reus könnte man glatt meinen, dass es sich bei der fürsorglichen Behandlung um eine Art Sicherungsverwahrung handelt, damit dem zerbrechlichen Dortmunder nicht wie vor der Weltmeisterschaft auf den letzten Metern wieder ein Unheil widerfährt. Aber bei Schweinsteiger, da wüsste man allmählich schon gern, was eigentlich all diese Kremlverlautbarungen zu bedeuten haben. Wann Schweinsteiger ins Mannschaftstraining einsteigen werde, das wollte oder konnte kein DFB-Verantwortlicher vorhersagen.

Unabhängige Quellen, deren Objektivität nicht anzuzweifeln ist, drängen die Annahme auf, dass es wenig Sinn ergibt, die Illusion um Schweinsteigers EM-Teilnahme aufrecht zu erhalten. Diese Quellen sind jedermann zugänglich und können vom Kreml nicht manipuliert werden, es sind die Zahlen über Schweinsteigers Einsatzbilanz bei Manchester United im Jahre 2016. Demnach hat er am 2. Januar 90 Minuten in der Begegnung mit Swansea City mitgewirkt und danach wegen eines Innenbandanrisses im Knie bis zum 20. März kein Spiel mehr bestritten. An jenem Tag ließ ihn sein Trainer Louis van Gaal für 20 Minuten auf den Platz, doch anschließend meldete sich Schweinsteiger wieder verletzt. Die Saison schloss Manchester ohne seine weitere Mitarbeit ab. Abschied von seinem Förderer Van Gaal, den der Klub trotz des Pokalsiegs vor die Tür setzte, hat der bayerische Patient aus der Ferne genommen. Der Pokalsieg mit United, das sei ja doch noch "ein gutes Ende" geworden, beschied Schweinsteiger tröstend.

Betrachtet man diese im Allgemeinen als maßgebend angesehenen Kriterien, dann ist Schweinsteiger nicht prädestiniert für große Auftritte in den französischen EM-Arenen. Und sollten Maßstäbe von Vernunft und Ökonomie gelten, dann wäre es sinnvoller, einem gesunden Spieler das Ticket zum Turnier auszuhändigen. Löw befehligt in Ascona einen Kader von 27 Spielern, es wird schwer genug für ihn, vier Opfer für die Heimfahrt zu bestimmen.

Andererseits ist Schweinsteiger nicht der Mann, über den nach Kriterien der reinen praktischen Verwendung geurteilt wird. Wie kein Anderer in Löws Aufgebot ist er ein Nationalspieler mit Sonderstatus. Seine Rolle beschränkt sich nicht aufs Fußballspielen. Hört man dieser Tage die Ausführungen des Bundestrainers zum Thema, dann drängt sich der Eindruck auf, dass es ihm vielleicht nicht einerlei ist, wann Bastian Schweinsteiger wieder auf höherem Niveau mitzumachen vermag. Dass er aber bereit ist, auf diesen Zeitpunkt sehr geduldig zu warten.

Natürlich finden sich auch Vertreter der gegenteiligen Theorie. Diese besagt, dass Löw lediglich aus Anstandsgründen dem Kapitän die Chance gibt, um seine Fahrkarte nach Évian (dem Wohnsitz der Deutschen während der EM) zu kämpfen. Damit er nach der Nominierungsfrist ohne Gewissensbisse und ohne öffentliche Vorwürfe, er habe einen alten Helden fallen lassen, die bedauerliche Absage an Schweinsteiger erteilen kann.

Am überzeugendsten ist bis zum Stichtag 31. Mai aber die dritte Theorie: Der Bundestrainer weiß genauso wenig wie der Rest der Menschheit, wie es um Bastian Schweinsteiger steht und was die beste Lösung ist.

© SZ vom 30.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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