Atlético Madrid:Die Mauerbauer vom Manzanares

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Ein Bild, über das sich in Spanien längst keiner mehr wundert: Atletico-Torwart Oblak hält mal wieder den Ball, hier gegen Reals Gareth Bale (r.). (Foto: Kiko Huesca/dpa)

21 Ligaspiele, acht Gegentore: Vor dem Liga-Spitzenspiel in Barcelona verblüfft die Abwehrbilanz.

Von Oliver Meiler, Barcelona

0,7 ist weniger als eins, für diese Erkenntnis braucht es keine höhere Mathematik. Passend wäre in diesem Fall aber die Fähigkeit zum Staunen. In der laufenden spanischen Fußball-Meisterschaft hat Jan Oblak, der 23 Jahre alte slowenische Torwart von Atlético Madrid, im Schnitt 0,7 gezielte Schüsse pro Spiel auf sein Tor zukommen sehen, weniger als einen also. 21 Spiele sind jetzt gespielt, mehr als die Hälfte der Saison. Und in eben diesen 21 Spielen kassierte Oblak nur acht Tore, so wenige wie kein anderer Torwart aus allen maßgeblichen Ligen Europas. Mit einem neuerlichen Exkurs in die Mathematik ließe sich zwar argumentieren, dass Oblaks Leistung durchschnittlich ist: acht Tore nach insgesamt 14,7 Torschüssen - der Slowene pariert demnach nicht einmal jeden zweiten Ball, der auf seinen Kasten zufliegt. Doch diese Rechnerei spiegelt die Lage natürlich nur sehr unzureichend.

In 21 Ligapartien gab es erst acht Gegentore - doch im Pokal setzt es ein 2:3 gegen Vigo

Atlético Madrid ist mit 48 Zählern Tabellenzweiter der Liga, punktgleich mit dem FC Barcelona, dem Gegner im Spitzenspiel an diesem Samstag, der jedoch ein Spiel weniger ausgetragen hat. Und das Team entwickelt sich unter Trainer Diego Pablo Simeone zu einem Verteidigungswunder. Die Mauerbauer vom Manzanares, wie der Fluss im Süden Madrids heißt, an dem ihr Stadion steht, haben über Jahre hinweg viele Weggänge kompensiert und ihr System betoniert. Atlético lebt von der eingespielten Viererreihe in der Defensive, Juanfran, Diego Godín, José Giménez, Filipe Luis; vom zentralen Mittelfeld mit einem ausgeprägten Hang zur Eindämmung des gegnerischen Furors; von der opferbereiten Offensive, die sich bei Ballbesitz des Gegners vom Coach zurückbeordern lässt. Immer, seit vier Jahren schon. Kampf ist alles.

Schön anzusehen ist das nicht immer, zumal die "Colchoneros" auch nicht viele Tore erzielen, bisher lediglich 30. Insofern war das Pokal-Viertelfinale am Mittwochabend eine unschöne Ausnahme, denn Atlético verlor daheim gegen Celta Vigo 2:3 und verpasste somit überraschend das Halbfinale - im Gegensatz zu Barcelona (3:1 gegen Bilbao). Die meisten Tore für Atlético steuert der Franzose Antoine Griezmann bei, ein Top-Profi, den der Klub gerne mit einer 100-Millionen-Klausel an sich binden möchte. Und zwar jetzt umso mehr, als die Fifa die Madrilenen mit einer einjährigen Transfersperre belegt hat. Griezmanns Kollegen im Sturm, die hoch bezahlten Fernando Torres und Jackson Martínez, stehen ganz in seinem Schatten. Von Torres, einem Idol der Rot-Weißen, heißt es, er stehe kurz vor dem Abschied.

30 Tore in 21 Liga-Spielen sind für einen Titelkandidaten eigentlich viel zu wenig. Aber was sind diese Tore rentabel gewesen! Real Madrid, der große Stadtrivale, traf schon 58 Mal, ist aber nur Dritter mit vier Punkten Rückstand.

Coach Simeone sagte unlängst der Zeitung El País: "Wir würden ja gerne wie Barça spielen. Doch wir sind nicht Barça, und wir werden auch nie Barça sein." Man gefällt sich in der Rolle des Underdogs, bissig und kläffend. Nun aber, nach vier Jahren ganz oben und nach Transfers für mehr als 100 Millionen Euro, ist das Understatement bestenfalls Koketterie. "Atleti" ist ein großer Verein geworden und ein fester Konkurrent um die nationale Meisterschaft, obwohl der Trainer dieses Prädikat scheut: Es schwächt seine allwöchentliche Motivationslinie, das manische Beschwören vom "Spiel um Spiel". Er wiederholt seine Maximen so beharrlich, als drohe immer gleich das große Erwachen nach einem langen, schönen Traum. Unter den Anhängern von Atlético hatte man sich ja schon eingeredet, das Pech im Spiel hänge fatal am Verein, in alle Ewigkeit. Bis der Trainer, "El Cholo", zurückkam.

Ein bisschen Ernüchterung könnte sich nun im Camp Nou einstellen. Man sieht sich mit dem vielleicht besten Sturm der Geschichte konfrontiert, mit dem Dreizack Lionel Messi, Luis Suárez und Neymar. Es kann also gut sein, dass die Katalanen die denkwürdige Quote von 0,7 Torschüssen pro Spiel etwas nach oben korrigieren werden. Vielleicht aber auch nicht. Ein neuerlicher Blick in die ausführliche Version des Klassements zeigt nämlich eine weitere erstaunliche Zahl: Auswärts ist Atléticos Mauer noch fester. Fern von zu Hause musste sich Oblak in elf Begegnungen erst drei Mal geschlagen geben - 0,27 Tore pro Spiel. Und das ist schon sehr deutlich weniger als eins.

© SZ vom 29.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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