Mein Deutschland:Hin und her

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Eine laute Drohung und mehr höhnische als echte Freude: Erinnerungen an die Berliner Mauer - vor und nach der Wende.

Andrey Kobyakov

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich am Spätabend dieses regnerischen Herbsttages im Jahr 1992 durch das Brandenburger Tor gelaufen bin, hin und her, her und hin. Ich erinnere mich jedoch daran, dass sich mit meiner symbolischen Route ein seltsames Gefühl in mein Gedächtnis einbrannte: die Freude eines Außenseiters, der mit beiden Deutschlands nichts zu tun hatte. Zugegeben: Es handelte sich auch um ein Rachegefühl, und die Freude war mehr höhnisch als echt.

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Fünf Jahren zuvor hatte ich als Tourist zum ersten Mal Deutschland besucht - als Russe meine ich natürlich die DDR. Die Reise war großartig, aber das stärkste Erlebnis kam am letzten Tag. Dazu muss man wissen, dass Westdeutschland für die meisten sowjetischen Bürger ein unerreichbares Reiseziel mit einer starken Anziehungskraft war. Unsere Propaganda-Maschine spuckte immerfort "Revanchismus" aus oder "Reich von sozialer Ungerechtigkeit" oder "grausamer Kapitalismus".

Die literarischen Prediger für den sozialistischen Realismus versäumten es auch nicht, Begriffe wie "Prostitution", "Drogen" und "Kriminalität" zu streuen. Seltsamerweise erzählten die wenigen Glückspilze, die die Bundesrepublik besuchen konnten, eine ganz andere Geschichte. Und je größer diese Kluft wurde, desto stärker zog der Westen die neugierigen und argwöhnischen Kommunisten an. Sie versammelten sich gerne auf der einen Seite der Aussichtsplattform des Berliner Fernsehturms, der Riesenbau schien jeden Augenblick nach Westen einstürzen zu können.

"Halt! Zurück!"

Am letzten Abend in Berlin, wir hatten den Abschluss der Reise gefeiert, schlug einer einen Nachtspaziergang zum Brandenburger Tor vor. Wir gingen schnell, schwatzten und lachten laut. An der Kreuzung Unter den Linden und Wilhelmstraße warnte uns ein Passant, dass es sich nicht lohne, weiter zu gehen. Aber der Wodka-Bier-Cocktail im Blut ließ uns die Warnung ignorieren.

Als wir zur Absperrung kamen, hörten wir ein lautes: "Halt! Zurück!" Nachdem wir riefen, dass wir das Tor näher anschauen wollten, antwortete uns eine Stimme, und die Worte machten uns sofort nüchtern. Der Mann redete russisch, in der Kanonade grober Schimpfwörter fiel deutlich mehrmals "schießen".

Die Ernüchterung passierte so blitzschnell und sie war so bitter, dass ich diese Tirade und sogar die Stimme des sowjetischen Soldaten jederzeit höre, wenn ich von Osten zum Brandenburger Tor komme. Aber trotzdem zieht es mich immer wieder magisch dorthin. Als ich das erste Mal nach der Wiedervereinigung in Berlin eingetroffen war, rannte ich sofort zum Pariser Platz - trotz nächtlicher Dunkelheit und starken Regens.

Wenn ich diese Geschichte russischen und deutschen Bekannten erzähle, könnten die Reaktionen unterschiedlicher nicht sein. Die Russen nicken lächelnd und höflich, der Blick bleibt aber gleichgültig. Die Älteren nehmen den Fall der Berliner Mauer als den Anfang des Zusammenbruchs ihrer Heimat an. Zwei Jahre später, am 8. Dezember 1991, verschwand die UdSSR. Während die Deutschen die Grenze, die ein Volk getrennt hatte, ausradierten, wurden die Sowjetbürger von regionalen, herrschsüchtigen Eliten auseinandergerissen - obwohl sie in Volksabstimmungen anders entschieden hatten. Die jüngeren Russen wiederum haben keine Ahnung. Einer aktuellen Umfrage zufolge wissen fast vier von fünf der 18- bis 24-Jährigen nicht, wer, wann und warum die Berliner Mauer gebaut hatte.

An dieser Stelle schreiben jeden Samstag Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

© SZ vom 14.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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