Vorarlberg:Alles verpulvert

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Am Körbersee in Vorarlberg fallen jährlich elf Meter Schnee - so viel wie sonst nirgends in den Alpen.

Dominik Prantl

Dort, wo sich der Winter auf einmal beziffern lässt und sich von einem vagen Begriff in eine greifbare Zahl verwandelt, geht Fritz Schlierenzauer jeden Wintermorgen seit mehr als 30 Jahren den gleichen Weg.

Fritz Schlierenzauer prüft jeden Morgen, wie die Schneelage ist. (Foto: Foto: oh)

Er verlässt um halb sieben sein 60-Betten-Hotel am Körbersee, marschiert 100 Meter hinter das Haus zu einem etwa 50 Quadratmeter großen, mit Absperrband eingegrenzten Areal und leistet seinen Beitrag zum aktuellen Lawinenlagebericht in Vorarlberg.

Er beobachtet Wind und Wetter, bestimmt die Schneetemperatur und misst bei Bedarf die Menge des frisch gefallen Schnees. Im vergangenen Winter waren das insgesamt 13,31 Meter.

Im Moment liegt dort auf 1675 Metern Seehöhe nur etwas mehr als ein Meter, zu dem sich die insgesamt dreieinhalb Meter gefallener Schnee verfestigt haben, Tendenz steigend. "Generell haben wir den meisten Schnee erst im März oder gar April", sagt Schlierenzauer.

Selbst im Winter 2006/07, dem miserabelsten seit Bestehen der Skiindustrie, fielen immerhin 5,50 Meter. Schlierenzauer erinnert sich an einen Rekord aus dem Jahr 1967, als insgesamt 24 Meter Neuschnee eine fast 5,20 Meter dicke weiße Auflage bildeten. Bis zum 17. Juni sei damals der unweit gelegene Skilift am Salober in Betrieb gewesen, erst am 4. Juli war der See eisfrei.

Eine geschlossene Schneedecke von sieben Monaten gilt am Körbersee ohnehin als normal, im Schnitt beläuft sich die gefallene Schneemenge pro Saison auf etwa elf Meter. Das Skigebiet der kleinen Ortschaften Warth und Schröcken, zu dem der Körbersee zählt, hat es deshalb trotz der bescheidenen Größe von 66 Pistenkilometern kürzlich sogar in die englische Daily Mail geschafft, als Nummer eins unter den schneereichsten europäischen Skiresorts der Alpen, dicht gefolgt vom bekannten Zürs (10,40 Meter), Braunwald (neun Meter), Obertauern und Avoriaz. Als unerreicht gelten weltweit die Skiresorts im Westen der USA.

Dass auch der Zweitplatzierte der Alpen nur eine Bergkette weiter südlich vom Körbersee liegt, ist kein Zufall. Niederschlag ist eine Folge von Kondensation und Luftbewegungen, und die Erhebungen des Vorarlbergs bilden für zumeist vom Nordwesten heranziehende Tiefs die erste nennenswerte Hürde, an der die Wolken ihren Ballast loswerden.

Manche Teile der Region erhalten übers gesamte Jahr verteilt fast vier Mal so viel Niederschlag wie Hamburg. "Diese Nordwest-Staulage ist manchmal ein Nachteil, aber eigentlich sind wir doch froh, wenn wir Schnee abbekommen", sagt Schlierenzauer - und untertreibt.

Denn in der Wintersport-Gemeinde Warth etwas weiter unten gelten die Rekordwerte als Segen. Schlierenzauers Messungen sind inzwischen sogar zur Grundlage einer PR-Parole geworden. Die üblichen wie abgenutzten Schlagwörter "schneereich" und "schneesicher" wären ja Tiefstapelei.

Lesen Sie weiter, welchen ernsten Hintergrund Schlierenzauers Arbeit hat.

Während der 63-jährige Dokumentar hingebungsvoll mit Vokabeln wie "Schwimmschnee", "Becherkristalle" und "Rammprofil" hantiert, haben die Vermarktungsprofis aus seiner wissenschaftlichen Schneeflockenpoesie und den langjährigen Zahlenreihen ein Mantra destilliert: "Elf Meter Schnee." Das ist jedem eingängig, der mal im Schwimmbad am Zehn-Meter-Turm stand oder sich beim Hochsprung über die 1,60 Meter quälte.

Karl Wiener, Geschäftsführer der Steffisalp, hat die Schneemassen-Botschaft schon vorbildlich in seinen Wortschatz aufgenommen. Wenn er beispielsweise die fehlenden Balkone seines modernen Hotels erklärt, sagt er: "Ja, die elf Meter müssten da auch erst einmal wieder runtergeschaufelt werden."

Auch besitzen die Dorfbewohner - wie der Olympiasieger Hubert Strolz oder der immer wieder gerne porträtierte, bergführende Bürgermeister Gebhard Fritz - als Kollektiv mittlerweile ein enzyklopädisches Wissen über Schnee. Und längst hat die Freerideszene die häufig mit Neuschnee gepuderten Hänge im Skigebiet etwas westlich des Körbersees als Spielplatz entdeckt.

Dabei hat Schlierenzauers tägliche Handarbeit, für die der Hotelier einst zwei Wochen lang geschult wurde und für die er eine "kleine Entschädigung" erhält, einen sehr ernsten Hintergrund. "Wir machen das im Grunde zur Sicherheit der Menschen", sagt er.

Die Messstelle ist eine von sechs Beobachterstationen der Lawinenwarnzentrale in Bregenz. Am 1. und 15. jeden Monats dauert sein kurzer Spaziergang hinter das Haus ein wenig länger. Dann fertigt er ein Schneeprofil über den Schneedeckenaufbau an, dokumentiert Kornform, Korngröße, Härte und Feuchtigkeit des Schnees, und wer Schlierenzauers Datensatz folgt, landet bald bei Andreas Pecl, dem Leiter der Lawinenwarnzentrale Vorarlberg, das bereits im Jahr 1953 als erstes Bundesland Österreichs eine Organisation dieser Art einrichtete.

Zentral gesammelter Lawinenwarnbericht

Bei Pecl fließen alle Informationen zusammen, nicht nur jene von den Beobachterstellen, sondern auch die Werte der 20 automatischen Messstationen sowie weitere Daten der Wetterdienste, benachbarter Lawinenwarndienste oder der Skigebiete. Bereits um sechs Uhr morgens sichtet ein Mitarbeiter die Angaben, ehe sie über Telefon und Internet abrufbar sind oder auch per SMS, Fax und E-Mail verschickt werden.

Abgesehen davon, dass sich Schlierenzauer als Mann von der Basis einfach per Sonde und Schaufel über die Lawinengefahr informieren kann, braucht er den Lagebericht trotz der Schneemassen hinterm Haus nur selten. "Ich bin 30 Jahre lang Ski gefahren. Jetzt muss ich betteln, um überhaupt mal eine Stunde frei zu bekommen."

© SZ vom 22.1.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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