Mitten in Absurdistan:"Jakob ging nicht dran. Aber Günther!"

Wenn Kinder am Sonntagmorgen durch die Welt telefonieren, ist das doch schön. In Peking machen sie ihre pfeifenden Eltern auf andere Art glücklich. Und Buenos Aires demonstriert eindrücklich, wie angewandte Globalisierung funktioniert.

SZ-Korrespondenten berichten Kurioses aus aller Welt.

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Junge Vergnügungspark Peking

Quelle: dpa

SZ-Korrespondenten berichten Kurioses aus aller Welt.

Mitten in ... Peking

Pfeifen im Wald geht in Peking nicht. Mangels Wald. Pfeifen im Park geht schon. Und zwar so: Mutter pfeift, Baby pinkelt. Auf Kommando. Funktioniert bis zum Kleinkindalter. Und zwar durch die Hose durch, bzw. durch den dort speziell eingelassenen Schlitz. Höhepunkte der letzten Parkausflüge: Erstens: zwei Zwillingsmädchen, 15 Monate alt, die auf Pfiff hin gleichzeitig in die Hocke gehen und zwei Bächlein spenden. Zweitens: auf einer Parkbank rastend Großmutter, Mutter und Babyjunge, letzterer auf dem Schoß der Mutter. Irgendwann hebt sie seine Beine an, legt so den Schlitz frei und pfeift. Einmal: nichts. Ein zweites Mal: nichts. Ein drittes Mal: jetzt aber. Ein schöner feiner Strahl hebt sich, zieht eine saubere Kurve durch die Frühlingsluft - und landet auf der Bluse der Oma, deren Augen sich in stummem Erschrecken weiten.

Kai Strittmatter, SZ vom 20./21. April 2013

Im Bild: Kleiner Junge in einem Vergnügungspark in Peking

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Erfurt

Schlüsselbund

Quelle: dpa

Die Katze im Sack schien äußerst geschmeidig zu sein: ein Hotel in Erfurt, Innenstadtlage, ordentliche Online-Bewertung, für nur 30 Euro pro Nacht. An der Eingangstür erste Zweifel, sie ist verschlossen, um 18 Uhr. Zu sehen ist nur ein Blatt mit zwei Handynummern. Tuuuut. "Ja?" Hallo, ich würde gern in mein Zimmer. "Gehen Sie in den Hinterhof." Und jetzt? "Da ist ein Safe in der Wand." Okay, sehe ich. "Tippen Sie 8855 und dann das B rechts unten." Der Safe geht auf, darin ein Umschlag mit einem Schlüssel. Das Hotel ist menschenleer, das Zimmer lässt sich beruhigender Weise von innen doppelt verschließen. Am nächsten Morgen muss man früh weg, um sieben Uhr, es ist: wieder niemand da. Noch ein Anruf also, von unterwegs: Wie machen wir das jetzt mit der Rechnung? "Keine Sorge, Sie werden bald von uns hören."

Cornelius Pollmer, SZ vom 20./21. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Buenos Aires

Supermarkt Peking

Quelle: AFP

Ich verabschiede mich manchmal mit einem zünftigen "Xiexie" von der Chinesin an der Kasse des chinesischen Supermarktes, man will ja nett sein. Sie reagiert stets mit einem freundlichen "Gracias". Mit Leuten, die kein Chinesisch können, sprechen Chinesen in Buenos Aires doch lieber Spanisch. Ihre Läden teilen sie gewöhnlich mit peruanischen oder bolivianischen Gemüsehändlern, angewandte Globalisierung. Das alles funktioniert so gut, dass in Argentinien außer vielleicht Soja nichts schneller wächst als die Zahl der chinesischen Supermärkte. Wir haben vier um die Ecke, im ganzen Land sollen es 10.000 sein. Wer es eilig hat, der geht immer zum Chinesen, die sind zehnmal schneller als der Rest, außerdem ist der Wein billiger. Auch an der teuren Avenida Alvear hat einer aufgemacht - dort, wo Escada wieder ausgezogen ist.

Peter Burghardt, SZ vom 20./21. April 2013

Im Bild: Frau in einem Supermarkt in Peking

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... München

Handy

Quelle: iStockphoto

Sonntagmorgen, kurz vor acht. Sohn: "Ich habe gerade versucht, Jakob anzurufen." Vater: "Bist du verrückt? Bei Jakob schlafen die doch noch. Es ist Sonntag." Sohn: "Jakob ging nicht dran. Es meldete sich nur ein Günther und sagte, bei ihm wohne ein Julius." Vater: "Günther? Gib mal das Telefon. Die Wahlwiederholung sagt, du hast Ingrid angerufen. Ingrid! Hast du mit einem Mann oder einer Frau gesprochen?" Sohn: "Mit einer Frau." Vater: "Das war Ingrid. Die ist mit Günther befreundet und wahrscheinlich hat sie 'Günther' gesagt, weil sie dachte, dass der Günther sie so früh anruft. Du weckst die ganze Welt auf!" Sohn: "Wohnt bei Ingrid auch ein Julius?" Vater: "Das war sicher ein Scherz von Ingrid." Sohn: "Das Telefon klingelt!" Vater: "Was ist denn nun schon wieder?" Sohn: "Eine Lorena. Ich habe ihr gesagt, dass bei uns keine Marlene wohnt."

Martin Zips, SZ vom 20./21. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Portland

Rindersteak

Quelle: picture-alliance / dpa/dpaweb

Mitten in ... Portland

Samstagabend auf der Commercial Street, der Straße mit den meisten Restaurants in Portland, der schönen Hafenstadt in Maine. Ein Tisch für den Alleinreisenden ist schnell gefunden. Schnell sind auch das Steak, der Salat und das Glas Weißwein bestellt und genauso schnell serviert. Ja, in diesem Land ist das Ausgehen bestens organisiert. Aber Portland hält eine neue Lektion in US-Präzisionsgastronomie bereit: Kaum ist der Nachbartisch geräumt, nähert sich der Kellner mit einer Sprühflasche. Und dann kommt es zum energischen Einsatz der Reinigungsflüssigkeit. Nicht nur der Nachbartisch wird eingenebelt, sondern auch mein Steak, mein Salat, mein Wein. Ich werfe mich über mein Mahl und schaue entsetzt zu dem mit Verve den Tisch abrubbelnden Hausgeist. Da brandet sein Lächeln auf, und er ruft: Do you enjoy your meal, Sir?

Harald Hordych, SZ vom 13./14. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Stuttgart

Babynahrung Gläschen Hipp

Quelle: dpa

Der ICE ist gerade wieder angefahren, da flötet es schon: "Kaffee, Cappuccino, Tee?". Eine Bahnangestellte bietet Heißgetränke an, drei Euro der Pappbecher. Die vier Reisenden im Abteil schauen in ihre Regionalzeitung, auf den Laptop, aus dem Fenster. Ein junger Mann mit Brille konzentriert sich auf das Mini-Display seines Smartphones. Pokerkarten, er scheint zu wissen, was er da tut. Die Frau mit den Heißgetränken steht immer noch da. Wieso das? Alle gucken gleichzeitig zu ihr hoch. "Ich such nur das Kind" sagt sie und deutet fragend auf die Glaskonserve vor dem Pokerspieler. Hipp steht darauf, Babybrei, Geschmacksrichtung Pflaume mit Birne. In dem Brei steckt ein großer blauer Plastiklöffel. Der Pokerspieler grinst und führt den Löffel zum Mund. Ein bisschen Brei kleckert auf sein Display.

Charlotte Theile, SZ vom 13./14. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Wien

Schuhe Laden Wien

Quelle: AFP

Neulich war eine Freundin zu Besuch, eine bekennende Modenärrin. Ich verstehe nichts von Mode. Eine It-Bag würde ich nicht erkennen, wenn sie vor mir stünde, und Bottega Veneta habe ich lange für eine Sherrymarke gehalten. Wir zogen durch die Pop-Up-Shops der Stadt - das sind diese Läden, die für ein Wochenende, ein paar Tage in einem leer stehenden Geschäft, einer aufgelassenen Lagerhalle ihre Ware verkaufen und dann weiterziehen; sie sind in Wien mega-in. In einem der Shops fanden wir ein wahnsinnig preiswertes Kleid einer wahnsinnig angesagten, britischen Designerin. Ich probierte es an, es passte, dann wurde ich moralisch quasi zum Kauf gezwungen. Ich fragte demütig, ob das Kleid nicht eigentlich scheußlich sei. Die Antwort der Fashionista: "Bei diesem Preis ist noch das grässlichste Designerstück wunderschön."

Cathrin Kahlweit, SZ vom 13./14. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Singapur

Husky

Quelle: Getty Images

Bei den Nachbarn wohnen zwei aus Sibirien. Eisblaue Augen, dickes Fell. Sie kommen aus dem Haus ins Freie, und gerne würde man ihnen jetzt ein paar tröstende Worte zuflüstern: Der nächste Winter kommt bestimmt! Aber sie werden ahnen, dass das gelogen ist. Die philippinische Haushälterin schlappt lustlos über den Gehsteig, hält die Leine kurz und möchte schnell wieder umkehren - kein Wunder bei 33 Grad und 87 Prozent Luftfeuchtigkeit. Wird also nur ein kurzer Auslauf für die Schlittenhunde. Aber womöglich dürfen sie ja zuhause aufs Laufband ihres Herrchens. Und wenn sie es besonders gut erwischt haben, dann kühlt dieser Mensch seine Wohnung auch noch herunter auf Temperaturen wie im Eisschrank - man macht das gerne so im Stadtstaat am Äquator. Vielleicht findet da selbst ein Husky noch zu seinem Glück.

Arne Perras, SZ vom 13./14. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Berlin

East Side Gallery Berlin

Quelle: dpa

Es hat verständlicherweise ein bisschen gedauert, bis die Berliner vom Ruf "Die Mauer muss weg!" zu "Die Mauer muss bleiben!" gewechselt sind und nun darum kämpfen, dass die East Side Gallery als längstes noch existierendes Mauerstück möglichst lückenlos erhalten bleibt. Um ein Symbol der Grausamkeit in ein gern besuchtes Mahnmal umzuwandeln, braucht es zeitlichen Abstand. Wie wichtig es ist, dass man zumindest an einer Stelle Berlins noch ein Gefühl dafür bekommen kann, wie die Deutsche Teilung einmal aussah, zeigt ein aktueller Dialog zweier Grundschüler, die die Mauerreste im Vorbeifahren aus einem Busfenster heraus betrachten: "Die ist ja voll niedrig, die Mauer! Ich habe mir die höher vorgestellt", sagt der eine Knirps. Darauf der andere: "Ja, aber früher waren die Menschen auch noch nicht so groß wie heute."

Judith Liere, SZ vom 6./7. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Mumbai

Cafe Leopold Mumbai

Quelle: oh

Das Café Leopold ist eine Institution in Mumbai. Eine Sensation ist es eher nicht - Holztische, historische Fotos, anständiger Kaffee - sondern vor allem beliebt, weil es ansonsten in der Metropole mit der Caféhaus-Kultur nicht weit her ist. Viele westliche Touristen kommen ins Leopold, es war auch ein Ziel der Terroranschläge von 2008 mit Dutzenden Toten. Wir stehen nahe der Tür, als ein Australier das Café betritt und fragt: "Ist das hier das Leopold?" - "Ja." - "Echt jetzt?" - "Ja doch." - "Das Café, in dem die Terroristen rumgeballert haben?" - Nun schweigen wir unsicher. - "Stimmt", sagt er dann und deutet auf die Mauer neben der Tür, "Einschusslöcher, oder? Krass!" Indiens Fremdenverkehrsoffizielle waren beunruhigt, dass die Touristen wegen der Anschläge wegbleiben. Dass sie wegen der Anschläge kommen, war ja auch nicht zu erwarten.

Marten Rolff, SZ vom 6./7. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Jerusalem

Jerusalem Gläubige Klagemauer

Quelle: dpa/dpaweb

Es hieß, ein Gang zur Klagemauer und eine kurze Berührung derselben mit der Hand führe dazu, dass man sich dort auch als religiös eher zurückhaltender Mensch etwas wünschen und mit der mittelfristigen Erfüllung des Wunsches rechnen könne. Nun kommt einem der Weg zur Mauer unendlich lang vor, und je mehr man sich ihr nähert, desto weiter scheint sie entfernt, aber das kann auch Hysterie sein. Kurz vor Erreichen der Mauer lehrt ein Blick auf die umstehenden Gläubigen sowie ein Griff an den eigenen Kopf, dass man die Schritte zur Wand ohne Bedeckung unternommen hat. Also geht man beschämt zurück, um aus der Glasvitrine eine weiße Kippa zu nehmen und dann ordnungsgemäß bekleidet an die Mauer zu schreiten. Aber jetzt, den Zeigefinger scheu am Meleke-Sandstein, fällt einem plötzlich der Wunsch nicht mehr ein.

Hilmar Klute, SZ vom 6./7. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Wien

Österreichischer Fußball-Fan Wien

Quelle: AFP

Der U-Bahnhof am Ernst-Happel-Stadion ist ein Meisterwerk österreichischer Planungskunst. Man kommt schnell zum Zug, selbst wenn 24.000 enthusiasmierte Österreicher und etwa drei traurige Färinger da nach dem Spiel auch hin wollen. Die Gastgeber haben gerade die Färöer Inseln besiegt, 6:0, die Fans sind jetzt doch ziemlich sicher, dass sie und ihr Team 2014 "Wödmasta" werden. Kurz vor dem Bahnsteig stockt die Schlange, keiner weiß, warum. Dann kommt ein Mitarbeiter der Wiener Linien, ein Deutscher wohl, so redet er zumindest. Er ruft, freundlich, aber zunehmend verzweifelt: "Durchgehen bitte! Gehen Sie nach hinten durch!" Vor ihm steht ein Dutzend künftiger Wödmasta, wie festbetoniert. "Durchgehen bitte", fleht der Deutsche. Und einer der Österreicher sagt: "Burschen, wir bleibn stehn. Vo am Piefke lassn wir uns gar nix sagn."

Roman Deininger, SZ vom 6./7. April 2013

Ein österreichischer Fan bei der Europameisterschaft 2008 in Wien

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Peking

Mitten in ... Peking Schlagersänger Heintje Flashmob

Quelle: picture-alliance / dpa/gms

Es gab mal eine Zeit, da war der beste Botschafter deutscher Kultur in China ein Holländer: Heintje. Heintjes Film "Einmal wird die Sonne wieder scheinen" lief in Endlosschleife durchs Programm. Das war die Zeit, wo sich die Chinesen auch am Schicksal der Kaiserin "Xixi" (Sissi) erfreuten, an Derricks Schlaghosen und am VW Santana. Die Achtziger. Später kamen die Chinesen zu Geld, zu Audi und auch zu Ikea. Dort war ich gerade.

Schlafende Chinesen im Sofabett "Ektorp", eine Familie beim Picknick in der Schauküche. Das Übliche. Mit einem Mal ertönt aus dem Lautsprecher "Kleine Kinder, kleine Sorgen". Heintje. Ich zucke zusammen.

Und plötzlich fangen um mich herum ein halbes Dutzend Chinesen an, zu wippen, zu summen und sogar mitzusingen. Ein Heintje-Flashmob in Pekings Ikea. Und nirgends eine versteckte Kamera.

Kai Strittmatter, SZ vom 30./31. März/1. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Tucson

Mitten in ... Tucson Arizona USA Kakteen

Quelle: picture-alliance / gms

Saguaro Nationalpark, Sonora-Wüste. Ein Hügel und eine Welt liegen zwischen hier und der Großstadt Tucson. Kojoten, Klapperschlangen, Kakteen, er werde gleich über all das reden, sagt Parkranger Jim und streicht sich über den grauen Schnauzer. Aber erst mal: "Leute, wo seid ihr her?" Ein Herr ist aus L.A., ein Paar aus Chicago, Jim ist das schnuppe. Dann sind wir dran, und Jim ist: in Ekstase. "Stuuudgaaard? Kennt ihr Vaihingen?"

Vaihingen ist ein Stadtteil von Stuttgart, es gibt dort eine Kaserne und eine Uni, die aussieht wie eine Kaserne.

Jim war für die Army da. Unter der roten Sonne Arizonas schwärmt er fünf Minuten lang, wie "sicher und sauber" Stuttgart-Vaihingen ist. Die Dame aus Chicago fragt, wie hoch die Kakteen eigentlich werden. Jim fixiert sie und sagt: "Meine Frau und ich hatten in Vaihingen die beste Zeit unseres Lebens."

Roman Deininger, SZ vom 30./31. März/1. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Dizin

Mitten in ... Dizin Iran Teheran Skigebiet Gondel

Quelle: REUTERS

Erst sagt der Taxifahrer, dort hoch zum Skigebiet, da gebe es gar keine Straße. Eine Karte überzeugt ihn schließlich, dass es doch eine gibt, aber auf 3000 Metern dann auch einen formidablen Schneesturm, gegen den auch die iranische Straßenmeisterei nicht ankommt.

Am nächsten Tag erreicht man schließlich Dizin, diesen viel gelobten Ort drei Autostunden von Teheran, ein Skigebiet aus der Schah-Zeit, das aber an diesem Tag außer Betrieb ist, weil die Gäste fehlen und das Wetter mies ist. Dann aber am folgenden Morgen: Sonne und Tiefschnee.

Der Lift fährt pünktlich an, und es wird einer der besten Skitage überhaupt. In den Gondeln bieten einem die freundlichen Iraner Selbstgebrannten an, der so übel riecht, dass man nur aus Höflichkeit nicht aus den Skischuhen kippt. Mit dem Alkohol sind sie halt etwas aus der Übung.

Bernd Dörries, SZ vom 30./31. März/1. April 2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... München

Molly Lamont bei der Gymnastik, 1936

Quelle: SCHERL

Wer noch Zweifel hegt an Oberflächlichkeit und Jugendwahn des modernen urbanen Menschen, der sollte sich abends in ein Fitnessstudio in Schwabing begeben. Hier glänzt der Schweiß nicht, hier glitzert er in den Lichtern der Großstadt, zu lebhafter Schickimickimuckimucke. Fett wird hier nicht verbrannt, es wird gefeuert - pro Hülle, contra Fülle, viel Kohle, kaum Hydrate.

Am Vormittag ist's entspannter. Weil sich da im Studio einfindet, wer viel Zeit hat: Studenten und Rentner. So steht nun zwischen diesen fitten jungen Frauen eine gebeugte alte, die wacker ein Gewichtchen stemmt. Eine junge nickt ihr zu, mehr freundlich denn anerkennend: "Fleißig, fleißig!". Die Antwort: "Ich muss ja." Zur Begründung wird der Hinweis auf Osteoporose oder malade Hüften erwartet. Doch die Rentnerin von heute sagt: "Die Konkurrenz ist groß."

Martin Wittmann, SZ vom 23./24.3.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Ljubljana

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Quelle: AFP

Sloweniens Hauptstadt ist so lieblich, dass man möglichst wenig Zeit in geschlossenen Räumen verbringen sollte. Aber wenn es draußen schüttet, muss der Fitnessraum im Hotel herhalten. Dort sitzt ein Mann auf einem Handtuch am Boden. Er kniet sich hin, stützt sich ab, beugt sich nach vorn, berührt mit der Stirn den Boden. Richtet sich wieder auf, beugt sich wieder vor, berührt mit der Stirn den Boden. Richtet sich auf, beugt sich wieder vor, berührt mit der Stirn den Boden.

Dass Muslime in Fitness-Räumen beten, ist zwar vielleicht ungewöhnlich, und dass statt des Gebetsteppichs ein Handtuch herhalten muss, auch. Andererseits: Allah ist es vermutlich egal, wo und wie er gepriesen wird.

Plötzlich begibt sich der junge Mann in einen Kopfstand. Die ganzen Verrenkungen - kein Gebet, sondern Vorbereitungen für die Yoga-Übung.

Cathrin Kahlweit, SZ vom 23./24.3.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Fort Collins

Karmann Ghia

Quelle: Karmann

Neulich bei Fort Collins im Flachland von Colorado: Ein wunderschöner Karmann Ghia an der Ampel, vermutlich einer der letzten aus brasilianischer Produktion. Am Kotflügel Aufkleber, die man im ländlichen Mittelwesten auch recht selten sieht: "Support your local feminist!", "Menstruate with pride", "Big car? Big dick". Drin allerdings sitzt an ZZ-Top-Bart und Glatze unverkennbar: ein Mann. Ein Freund der Halterin? Ihr Mann? Ihr Mörder?

Jedenfalls wartet genau hinter ihm ein Dodge RAM 2500, das brutalste Dieselmonster Amerikas. Darin zwei Cowboyhüte. Studieren die Aufkleber. Sehen die Glatze und den Bart hinter dem Steuer. Verfärben sich ins Brombeerhafte. Nicht gerade lustig. Und der Karmann Ghia rast mal vorsichtshalber bei Rot schon los. Bei seinem Gewicht zählen die PS ja glücklicherweise doppelt.

Peter Richter, SZ vom 23./24.3.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Buenos Aires

Papst Franziskus

Quelle: dpa

Ich weiß, man will jetzt fürs Erste nichts mehr wissen vom Papst. Vorläufig nur noch eins: Unsere Hausmeisterin hält mich für einen Hellseher. Ich bin im Gegensatz zu ihr nicht mal katholisch, aber am Tag vor der Wahl dozierte ich: "Ana, nach uns Deutschen wird Argentinien Papst. Bergoglio."

Ehrlich gesagt hatte ich diese Möglichkeit von meinem Kollegen Matthias aus Rom gehört, er ist also der eigentliche Prophet. Ana lachte mich aus, dabei weiß ich aus eigener Erfahrung, dass Argentinier fast alles für möglich halten.

Tags darauf geschah das Wunder. Als ich nach der Wahl an ihr vorbeieilte, zur Plaza de Mayo vor Bergoglios Kathedrale im Zentrum von Buenos Aires, da sah sie mich an wie einen Magier. Künftig muss ich ihr wohl die Fußballergebnisse voraussagen. Aber da liegt man in Argentinien allzu oft falsch.

Peter Burghardt, SZ vom 23./24.3.2013

Papst Franziskus hält einen Wimpel des argentinischen Fußballklubs San Lorenzo de Almagro in Händen.

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Tunis

Bar Flaschen Whiskey

Quelle: Tobias Felber/dpa

Die Hölle hat die Menschen immer beschäftigt, vor allem im Nahen Osten. Nur vorstellen kann sie sich keiner. Fundamentalisten in Tunesien haben es leichter. Sie können in den kleinen, namenlosen Club gehen in einer Seitenstraße der Avenue Bourghiba, gegenüber ist das Innenministerium, da arbeiten sie neuerdings. Wer mit seinem Bart am Türsteher vorbeikommt, findet eisgekühlte Bierkästen auf den Tischen vor, der Kellner öffnet die Flaschen mit dem Feuerzeug. Manche Gäste nutzen ihre Zähne, die meisten hier haben gute, es sind Filmleute und Künstler. Ab und zu springen sie auf, tanzen und bejubeln sich gegenseitig. Einer, ein kleiner Schwarzer, kann die Flasche aufbeißen, während er unter den gespreizten Beinen seines Gegenübers durchrutscht. Das muss er sein: der Höllenfürst aus den Albträumen der Frömmler.

Tomas Avenarius, SZ vom 16.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Istanbul

Briefkuverts mit @-Zeichen

Quelle: iStockphoto

Ein akademisches Viertel sollte auch im Orient 15 Minuten lang sein, oder? Im Istanbuler Orient-Institut schnattert das Publikum schon drei Mal so lang vor sich hin, bis die Referentin eintrifft und eine Entschuldigung murmelt: der Verkehr in Istanbul, das Übliche. Als die Instituts-Vertreterin dann das Geburtsjahr der Soziologin verrät - 1921 -, schrumpft die Warterei der Gäste zu einem Wimpernschlag. Die vielsprachige alte Dame (Türkisch, Englisch, Deutsch, Wienerisch) hält einen so putzmunteren Vortrag, dass man ihr ihre Lieblingsbeschäftigung sofort glaubt: Erasmus-Studenten unterrichten. Die kämen ja jetzt von überall. "Süper!", flötet Nermin Abadan-Unat und schwärmt von den Vorteilen "of globalization". Am nächsten Morgen meldet sich die 91-Jährige und kündigt an, gleich ihre Autobiografie zu schicken - per E-Mail.

Christiane Schlötzer, SZ vom 16.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Aachen

Turnschuhe

Quelle: Alessandra Schellnegger

Ein Junge, etwa 13 Jahre alt, steht vor einem Schuhregal. Bunte Farben, teure Marken, ein hipper Skaterladen. Er möchte ein Paar Sportschuhe anprobieren, eine Verkäuferin bringt sie ihm. Der Junge wird verlegen. "Kannst du keine Schleife machen?" fragt sie. Er schüttelt den Kopf. Darauf sie: "Das üben wir!" 15 Minuten lang legt die Verkäuferin mit dem Jungen die Schnürsenkel übereinander, immer wieder, bis er "Hurra" ruft. Etwas später kommt er mit seiner Mutter wieder. "Wussten Sie, dass er keine Schuhe binden kann?", fragt die Verkäuferin. "Ja, er nimmt immer zu große." Darauf die Angestellte mit stolzer Stimme: "Jetzt kann er's!" Skeptisch schaut die Mutter zu, wie sich ihr 1,60 Meter großer Sohn mit den Schnürsenkeln abmüht - wieder vergeblich. "Haben Sie auch welche mit Klettverschlüssen?", fragt sie nach einer Weile.

Charlotte Theile, SZ vom 16.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Nairobi

Polizisten Nairobi

Quelle: REUTERS

Der Beleg, dass Reiseführer-Autoren mit ihren Warnungen doch nicht übertreiben: Handy geklaut, durchs offene Autofenster aus der Hand gerissen. Einer der Klassiker in Nairobi. Auf Drängen des einheimischen Begleiters zur Polizei, "die sollen damit nicht durchkommen", sagt er. Der Beamte gibt sich selbstbewusst: Mithilfe der Seriennummer werde man das Telefon wiederbeschaffen. Freilich würde ein kleiner Obulus helfen, um sicherzustellen, dass der Fall nicht im Aktenstapel untergeht - nicht für ihn selbst, nein, für die Kollegen, an die er die Fahndung weiterleiten werde, "das sind ja auch nur Menschen". Er selbst sei übrigens gelernter Techniker, ob man nicht jemanden kenne, der etwas im Haus zu installieren habe? Kenias neu gewählter Präsident hat übrigens gerade mehr und besser bezahlte Jobs sowie Sicherheit auf den Straßen versprochen.

Tobias Zick, SZ vom 16.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Washington

Männer präparieren ein Haus vor dem Hurrikan

Quelle: AFP

Die Behörde warnt schon Tage vorher per SMS vor einem gewaltigen Wintersturm. Die Stromfirma ruft an: Es werde Ausfälle geben, man möge alle Taschenlampen prüfen. Im Wetterkanal hören sie nicht auf, zu reden. Der Sturm, der sich Washington nähert, bekommt einen Namen. "Snowquester" - eine Mischung aus Schnee und Sequester, dem Spargesetz aus dem Parlament. In der Nacht beschließt die Regierung, dass an diesem Tag alle Bundesbehörden geschlossen bleiben. Die Schule ruft morgens um sechs an: kein Unterricht. Dann regnet es. Irgendwann schneit es sogar, bis zwei Zentimeter weißen Matsches auf dem Rasen liegen; auf den Straßen: nichts. Die Kinder freuen sich. Die Abgeordneten aus den Bergregionen verdrehen die Augen. Irgendwann kommt der schlimme Sturm ganz sicher. Vermutlich völlig überraschend.

Nicolas Richter, SZ vom 09.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Lübeck

Szene aus Musical "Happy birthday, Jim Knopf!"

Quelle: picture-alliance/ dpa

Im Regionalexpress, kurz vor Lübeck. Eine Frau spricht einen Mann an: "Entschuldigung, Sie gehören zur Bahn, oder?" Der Mann reagiert befremdet. "Ich? Nein. Wieso, sehe ich so aus?" Tut er tatsächlich: schwarze, uniformartige Jacke, dazu ein großer schwarzer Rucksack, wie ihn die Lokführer oft tragen - jedoch fehlt das rote DB-Logo. "Schade", sagt die Frau, "ich wüsste nämlich gerne, wann der letzte Zug nach Oldenburg fährt." Der Mann zieht einen Stapel von etwa 30 Fahrplänen aus der Jackentasche und schaut sie durch. "Hm, ausgerechnet den nach Oldenburg habe ich nicht dabei." Die Frau ist verblüfft, bedankt sich für die Mühe. Der Mann kramt weiter. "Warten Sie, vielleicht habe ich's hier." Aus dem Rucksack holt er ein dickes Kursbuch. "23.12 Uhr", sagt er schließlich zufrieden. Vielleicht wäre er doch gerne Lokomotivführer geworden.

Judith Liere, SZ vom 09.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Brüssel

Frau steht am Fenster

Quelle: iStockphoto.com

Gegenüber von uns, auf der anderen Straßenseite, lebte diese Frau mit dem weißen Haar. La señora, nannte sie unsere Tochter mit ihren ersten Worten. Immer, wenn la señora im Bademantel ans Fenster trat und die Gardine beiseite schob, um eine zu rauchen, winkten beide sich zu. Warfen Kusshände durch die Luft. Nie sahen wir sie rufen, nie auf der Straße laufen, nie erfuhren wir ihren Namen. Bis wir sie plötzlich nicht mehr sahen. Und ahnten, was geschehen war. Vor einigen Tagen räumten Leute, Verwandte wohl, die Wohnung leer. Das Kind stand auf der anderen Straßenseite, schaute zu, und wenn man nicht wüsste, dass sie unmöglich etwas wissen kann von unserer Vergänglichkeit, so hätte man schwören können, dass sie sehr wohl begriffen hatte. Traurig war, dass la señora nicht mehr da war. Denn es war, als verdrückte sie eine Träne.

Javier Cáceres, SZ vom 09.03.2013

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Mitten in Absurdistan:Mitten in ... Dresden

Jürgen Rüttgers

Quelle: picture alliance / dpa

Es ist: Sonntag, schlittenhundekalt, weit vor 10 Uhr. Im Kalender steht: "Rede Jürgen Rüttgers über Politikverdrossenheit". Man würde sich gern noch mal umdrehen und den lieben Herrn Rüttgers einen guten Staatsmann sein lassen. Aber dann steht er plötzlich in Gedanken allein im Schauspielhaus: Nanu, keiner da? Muss an der Verdrossenheit liegen, sag ich doch. Also geht man hin und hört zu: "Verantwortungsräume... Allzuständigkeit der Politik... Zuständigkeitsvermutung". Man ist wieder in Gedanken, bei F.W. Bernstein, seinen Elchen und deren Kritikern. Rüttgers fragt, woher die Politikverdrossenheit denn nun komme. Vortragskünstlerpause. Jetzt wird man unsicher: War seine Rede nicht langatmig, sondern eine rhetorische Performance? Er redet weiter, die Unsicherheit verfliegt. Man hätte sich noch einmal umdrehen sollen.

Cornelius Pollmer, SZ vom 09.03.2013

© SZ
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