Kristels Urteil auf dem Hinflug war eisklar: Der Weihnachtsmarkt in Tallinn, den viele für den schönsten Europas halten, er sei vor allem etwas für Touristen. Die angrenzenden Restaurants müssten zu der Zeit ihre Tische hereinholen. Frechheit! Nun muss man wissen: Kristel arbeitet in der Gastronomie der Stadt, ihre Einschätzung war also nicht ganz uneigennützig und ihre Direktheit ein Vorgeschmack auf Estlands Einwohner, die Gespräche gern sarkastisch-direkt führen.
Die 400 000-Einwohner-Stadt Tallinn ist eine eigensinnige Mischung aus Ost und West, aus Dänemark, Hanse, Post-Sowjetunion. Ihr Weihnachtsmarkt findet auf dem Raekoja Plats statt. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts unverändert, ist der Rathausplatz ein Prachtstück mittelalterlicher Architektur, das Herz der Altstadt, die die Unesco zum Weltkulturerbe erhoben hat. Darum locken die Restaurants mit dem Prädikat "Olde", die Kirchen horten Kunstschätze, und auf dem Markt gruppieren sich die feinen kleinen Holzstände wie Strahlen um den Weihnachtsbaum. Geschichte und Konsum reiben sich wohlig aneinander.
Bei der Eröffnung im November hatte ein Weihnachtsmann in Klocks und Nietengürtel den Lokalpolitikern assistiert. Dann tanzten junge Mädchen zu Electro-Beats. Verwirrter Blick ins Programm: Bis Januar werden noch viele Tanzschulen auf der Bühne stehen. Das Kulinarische mutet vertrauter an. Der Glühwein heißt Gögg. Weihnachts-Lachs und Weihnachts-Blutwurst werden mit Sauerkraut serviert. Und auch das Wetter kennt man: Nieselregen, knapp über Null. Früher war mehr Schnee, hatte Kristel gesagt. Eine Empfehlung ließ sie sich doch entlocken: Ein Besucher sollte nicht ohne handgemachte Wollsocken abreisen! Einen Gögg noch, dann wird eingekauft: Wollsocken mit Rautenmuster oder mit Hundeköpfchen?
Geöffnet bis 8. Januar täglich von 10 bis 19 Uhr, www.christmasmarket.ee