England:Bett des Herrn

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Seit Kurzem können Urlauber in England in leer stehenden Kirchen übernachten. Allzu viel Luxus dürfen sie dabei nicht erwarten. Dennoch profitieren vom "Champing" Gebäude wie Gäste.

Von Stefan Spath

Morgens um sieben tauchen die ersten Sonnenstrahlen das Innere des hohen Raumes in warmes Licht. Zum Gurren der Kirchhof-Tauben beginnen sich die ersten in ihren Schlafsäcken zu rekeln. Weder Gespenster, wie von den Jüngeren befürchtet, noch unerklärliche Geräusche im Gebälk störten den Schlaf der Urlauberfamilie. Überraschend erholsam war die Nacht auf Liegen unter den mittelalterlichen Säulen und Bögen der All Saints' Church, hier in dem kleinen Ort Aldwincle, in der englischen Grafschaft Northamptonshire.

Seit Kurzem kann man in leer stehenden Kirchen in England übernachten. "Champing" heißt das Angebot, das Wort setzt sich zusammen aus Church und Camping. In diesem Jahr werden zehn altehrwürdige Kirchen ihre Tore für Gäste öffnen. Die Idee zu der ungewöhnlichen Beherbergung hatte der gemeinnützige Churches Conservation Trust (CCT); er kümmert sich im ganzen Land um 347 Kirchen, die zur Church of England gehören und nicht mehr regelmäßig für religiöse Zwecke genutzt werden. Eine Aufgabe, die zunehmend schwieriger wird. Aldwincle beispielsweise, ein Ort mit 300 Einwohnern, hat gleich zwei mittelalterliche Gotteshäuser. Ihre Erhaltung obliegt traditionell der örtlichen Gemeinde - und das wurde schon vor Jahrzehnten zum Problem. "Die Leute von Aldwincle konnten sich nicht mehr beide Kirchen leisten", sagt Peter Aiers vom CCT. "Also traf man die Entscheidung, die All Saints' Church zu schließen. Aufgrund ihrer historischen Bedeutung kam eine Umwidmung oder gar ein Abriss aber nicht infrage."

So kam der CCT ins Spiel. Die Organisation hat sich nicht nur zum Ziel gesetzt, die Kirchen vor dem Verfall zu bewahren. Die Beiträge, die die Gäste für die Übernachtung zahlen, helfen nun dabei. Zugleich bleiben die Kirchen so auch im Bewusstsein der Einheimischen - in einer Zeit, in der immer mehr Menschen weniger Bindung zur Kirche haben. "Egal wie man zu Gott steht: Kein anderes historisches Gebäude erzählt mehr über einen Ort", sagt Aiers.

Das Frühstück gibt es ans Bett: Speck, Spiegelei und Kartoffeln aus der Warmhaltebox

Die Allerheiligenkirche in Aldwincle, deren Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, präsentiert sich denn auch tatsächlich wie ein steinernes Geschichtsbuch: Sie ist umgeben von einem pittoresken Friedhof. Fratzenhafte Gargoyles - Wasserspeier - blicken vom Kirchturm herab. Im Inneren findet sich ein Christophorus-Fresko, das auf die Bedeutung des nahen Flusses Nene als Transportweg hindeutet - der Patron der Reisenden hält ein Paddel in der Hand. Das kräftig leuchtende Glasfenster im Altarraum stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist eines der jüngsten Ausstattungselemente. Auch ein Harmonium steht im Raum; es wurde vor rund 100 Jahren aus Frankreich importiert und gibt nur mehr widerwillig Laute von sich. "Jede Generation hat die Kirche weiter gestaltet. Das macht die Gebäude so wertvoll, aus historischer Sicht", sagt Aiers.

(Foto: SZ-Karte)

Pünktlich um acht Uhr früh klopft es an der Kirchentür. Tim Hankins von der nahen Pear Tree Farm bringt das Frühstück. Hankins hat ein "Full English Breakfast" in der Warmhaltebox: Spiegeleier, Speck, Würstchen, gebratene Kartoffeln und Pilze sowie Tomaten. Dazu gibt es noch Joghurt, Früchte und Orangensaft. Vieles stammt direkt von Hankins' Hof - das ist Teil des Konzepts: Lokale Erzeuger sollen vom Champing profitieren. 2015 waren vom Start im Mai bis zum Ende der Saison im September alle Kirchen an den Wochenenden ausgebucht. "Deswegen haben wir in diesem Jahr mehr Kirchen geöffnet", sagt Aiers. Die Erfahrungen mit den Gästen seien überaus positiv, erzählt er. Die Besucher wüssten mit dem würdevollen Ort angemessen umzugehen.

Bei der Auswahl der Champing-Kirchen hat der CCT auch auf touristische Kriterien Rücksicht genommen. Von Aldwincle aus kann man per Kanu den Nene-Fluss erkunden, der für Vogelkundler interessant ist. Noch entspannter sind die Spaziergänge übers Land. Man wandert über alte Pfade, vorbei an Schafweiden und Getreidefeldern, die von wuchernden Brombeerhecken und niedrigen Steinmauern gerahmt sind. Alle paar Kilometer gibt es schöne Pubs wie das 400 Jahre alte The King's Head im nahen Wadenhoe. So verschlafen sei die Gegend nicht immer gewesen, klärt Aiers auf. Im Haus gegenüber der Allerheiligen-Kirche von Aldwincle wurde 1631 John Dryden geboren, einer der bekanntesten englischen Dichter. Im 30 Kilometer entfernten Peterborough liegt in der prachtvollen Kathedrale Katharina von Aragon begraben, die erste Frau Heinrichs VIII. Eine Zeit lang beherbergte die Krypta auch die Gebeine von Maria Stuart. Die Rivalin von Elisabeth I. um den englischen Thron war 1587 im nahen Fotheringhay Castle hingerichtet worden.

Einige der Champing-Kirchen liegen in der Nähe interessanter Städte: Swaffham Prior 16 Kilometer östlich von Cambridge; von Fordwich aus sind es vier Kilometer nach Canterbury, die Strecke kann man auch gut zu Fuß zurücklegen. St. Peter and St. Paul auf dem Anwesen Albury Park in der Grafschaft Surrey ist die Kirche, von der aus man am schnellsten in London ist; der Ort liegt rund 50 Kilometer südwestlich der Hauptstadt. Das Gotteshaus, das im Ort als "old parish church" bezeichnet wird, ist ohnehin etwas für Romantiker: Die heutige Champing-Kirche war ein Drehort im Hugh-Grant-Film "Vier Hochzeiten und ein Todesfall".

Als Konkurrenz zum klassischen Bed & Breakfast versteht sich das Champing dennoch nicht. "All Saints' ist eine wunderschöne Kirche, die ihren Charakter als Kirche und als geweihter Ort beibehalten soll", sagt Peter Aiers. "Räumt man die Camping-Liegen weg, sieht alles aus wie vorher." Tatsächlich dürfen die Kirchen-Camper keinen Luxus erwarten. Fließendes Wasser gibt es nur im Freien, die Toilette immerhin ist in der Allerheiligenkirche in Aldwincle in der ehemaligen Sakristei untergebracht - die Komposttoilette funktioniert, ganz ökologisch, ohne Wasserspülung. Der Strom für die Ventilatoren wird mithilfe von Sonnenkollektoren am Dach erzeugt. Erhellt wird der Kirchenraum von LED-Kerzen. Fest installiert ist nur der Gasherd, mit dem man Warmwasser aufbrühen kann - ohne Tee geht in England nichts.

Am Ende des Urlaubs zieht man die schwere Kirchentür zu und geht. Die nächste Gruppe wird in ein paar Stunden in der Allerheiligenkirche eintreffen. Auch diese Gäste kommen ganz einfach zu ihren Liegen. Der Vormieter deponiert, wenn er seine Schlafkirche verlässt, den Schlüssel einfach unter einem Stein.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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