Antillen - Anguilla (SZ):Das Salz des Passates

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Studien in Blau und Weiß - Wer sich auf der kleinen Antilleninsel verliert, wird in Oasen der Muße und des Luxus gefunden

Harald Eggebrecht

(SZ vom 20.06.2000) - Schnell wird es nach Sonnenaufgang heiß über dem flachen, sich nur 66 Meter aus dem unverschämt türkisen Blau des Meeres hebenden Rücken von Anguilla. Würde nicht der stetig wehende Nordostpassat die Luft angenehm bewegen, als werde man von unsichtbarer gigantischer Hand befächelt, würde das lang gestreckte Eiland vor Hitze glühen. So aber wendet jeder sofort die Stirn in die kühlende Brise.

Das Meer vor Anguilla ist so klar, als schwebe man im Schwerelosen. (Foto: Foto: Covecastles)

Dabei sah es bei der abendlichen Ankunft in Blowing Point aus, als braue sich ein mächtiger Zyklon zusammen. Die Sonne war verschwunden, und die kurzen Wellen der Karibischen See schlugen hart gegen den dahinsausenden Leib der Fähre von St. Maarten / St. Martin. Unter dem sich zunehmend dunkler ballenden Grau des Himmels glänzte das Wasser wie flüssiges Metall, und die Insel beugte sich trist mit ihrem Macquia- und Sukkulenten-Bewuchs aus dem Wasser.

Und zum dritten Mal innerhalb weniger Stunden eine neue Staatsgrenze, eine neue Nation, auf zwei kleinen Inseln: vom holländischen St. Maarten-Teil in den französischen St. Martin-Teil zum Schnellboot, das nach Anguilla fährt und seine Passagiere ins Britische entlässt - mit Linksverkehr und strenger Pass- und Zollkontrolle. Wer hoffte noch auf Strandglück unter grünen Palmen?

Lichte Reize

Doch als sich die Sonne am Morgen erhebt, leuchtet die Küste weiß von Sand und zerriebenem Korallengestein, und silbern zieht sich der Brandungssaum über türkisem Grund. Das gebirgige St. Maarten jenseits des ach so blauen Meeresarmes gibt dem Blick dramatischen Halt und am hohen Himmel ziehen in üppiger Pracht die Flotten der herrlichsten Wolkenformationen dahin. Was gestern sich traurig duckte, breitet heute in diesem Morgenlicht seine exotischen Reize aus:

Anguilla oder wie es die Engländer auch genannt haben, Snakes-Island; sich von Nordost nach Südwest schmal und buchtenreich über 26 Kilometer hinziehend und an der breitesten Stelleauf fünf Kilometer sich ausdehnend; entstanden auf einem Sockel vulkanischen Gesteins, auf dem sich Riffe bildeten, die versandeten und Kalksedimente sich ablagerten, die die Oberfläche bestimmen; zugehörig jener Gruppe von Eilanden, die den schönen mythischen Namen "Inseln über dem Winde" tragen, jenem Teil der Kleinen Antillen, der sich wie ein Bogen in den Atlantik hinaus biegt, von den Jungfern-Inseln nahe Puerto Rico bis nach Trinidad und Tobago vor der Küste Südamerikas.

Wie sich bei diesen Namen die Segel kühner Fregatten blähen und die Totenkopfflagge am Mast flattert! Summte da nicht einer: "Fifteen men on the dead man's chest-- / Yo-ho-ho, and a bottle of rum!"? Wie es auf der Zunge plötzlich nach Rum schmeckt! Tatsächlich landete 1699 der legendäre Captain William Kidd auf Anguilla, berühmt als Kaperfahrer in englischen Diensten. Doch hier erfuhr er, dass sich sein Glück gedreht hatte:

Captain Kidd war in London als Pirat denunziert worden. Er segelte nach New York, um den Earl of Bellomont, den dortigen Gouverneur der englischen Krone, von seiner Unschuld zu überzeugen. Vergeblich, Bellomont, früher ein Protektor Captain Kidds, schickte ihn jetzt nach London vor Gericht, das Kidd zum Tode verurteilte. Man musste den kühnen Mann gleich zweimal aufhängen, bis sein Genick brach. Dann wurde sein Leichnam in die Themse geworfen, die er hinab trieb den aufwärts zum Londoner Hafen segelnden Kapitänen und Mannschaften zur Warnung vor jeder Piraterie. Aber nach seinen sagenhaften Schätzen suchten und suchen Unzählige bis in die Literatur hinein.

In Mr. Colville Pettys Dreizimmer-Museum, der "Heritage Collection" in Pond Ground, East End, hängt eine unscharfe Reproduktion eines unscharfen zeitgenössischen Porträts von William Kidd: Vielleicht hatte er scharfe Züge, möglicherweise einen weiten Silberblick und sicher schulterlange Haare. Mr. Petty, ein eindrucksvoller Graubart mit freundlich-forschenden Augen, die einen ernst mustern, hat die reiche Sammlung zur Geschichte der Insel trotz drangvoller Enge in einem Anbau seines Häuschens untergebracht.

Mit den Europäern verschwanden die Arawaks

In einer Ecke zusammen geschoben Stücke aus der Frühzeit, als die indianischen Arawaks um 2000 vor Christus vom Orinoko aus die Karibischen Inseln besiedelten: Uralte, von Korallen überkrustete Muscheln, Steinwerkzeuge, bearbeitete Knochen. Die Arawaks waren Fischer und Bauern, die Cassava, Mais, Süßkartoffeln, Tabak, Früchte und Gemüse anbauten. Ihre Zeit endete mit der Ankunft der Europäer.

1650 ließen sich auf Anguilla ein paar englische Familien nieder und versuchten ihr Glück mit Tabak. Sechs Jahre später landeten Kariben, plünderten, töteten die Männer und versklavten Frauen und Kinder. Später tobte es hin und her zwischen Engländern und Franzosen als Auswirkung der innereuropäischen Konflikte. Immer wieder kehrten Siedler zurück, probierten es mit Baumwolle oder seit dem frühen 18. Jahrhundert mit Zuckerrohr. Dafür holte man Sklaven aus Afrika. So verschob der Zucker die Struktur von ein paar weißen Farmern zu Gunsten der vielköpfigen Menge der afrikanischen Sklaven, die 1838 frei wurden. Aus ihnen ging die heutige Bevölkerung - rund 10.000 Einwohner - hervor.

Schwer hatten es die Anguillaner mit dem kargen Boden und der Regenknappheit, arm waren sie. Aubrey, der verschwiegen-witzige Fahrer, dem die Härte des Lebens tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hat, zeigt zaghaft auf ein unscheinbares kleines Haus, die ehemalige Schule für 500 Schüler. Der neue, mindestens dreimal so große Bau daneben protzt geradezu.

Kindheit ohne Spielzeug

Im Museum hebt er Sandalen, aus Autoreifen geschnitten, hoch, die habe sein Vater getragen, mit diesem selbst geschnitzten Harpunenhalter mit Gummizug habe er gejagt. Eine Weißblechdose, an die ein Henkel notdürftig gelötet wurde, diente als Tasse. Daneben verbeulte Töpfe, rostige Tiegel, eine tragbare, aus Ton gebrannte Feuerstelle, die bei Regen in den Behausungen benutzt werden konnte. Gerade zwanzig Jahre ist der Alltag mit diesen Behelfen her. Aubreys dunkles Gesicht zuckt, als er sagt: "As a child I never got a toy - never!"

Viele gingen auf andere Inseln, in die USA oder nach England zum Geldverdienen. Noch heute sind etwa soviel Anguillaner im Ausland wie jetzt auf der Insel. Erst seit der Revolution 1967, als sich Anguilla seine Autonomie von der Drei-Insel-Verwaltung - St. Kitts-Nevis-Anguilla - erkämpfte und zur britischen Kronkolonie wurde, besserten sich die Bedingungen.

Seit zwanzig Jahren setzt man mit Erfolg auf Luxustourismus, der Arbeitsplätze schafft und Anguillaner aus dem Ausland zurücklockt, weil es wirtschaftliche Perspektiven gibt. Ein Gouverneur führt im Namen der Königin die Außenpolitik, während die inneren Angelegenheiten ein alle fünf Jahre zu wählendes Insel-Parlament (House of Assembly) bestimmt, aus dem die Mehrheit den Chef-Minister stellt.

Selbstbewusst präsentiert Mr. Petty eine Schautafel mit Fotos von ihm als junger Mann, der aktiv an der unblutigen Revolution teilnahm. Er ist sich selbst schon historisch geworden, der Chronist Anguillas, dessen Buch im Drugstore des Hauptortes "The Valley" zu kaufen ist zwischen Pampers, Strandspielzeug, Küchengeräten und Bergen von Kreuzworträtselheften.

Überfluss ohne Wasser

"Ihr wisst nichts vom wahren Leben auf Anguilla", sagt Rawlin, der imposante, tiefschwarze Skipper des Katamarans Choclat. "Ihr wohnt für ein paar Tage in den Superresorts und zieht von einem teuren Restaurant zum anderen!" Während der schwarze Skipper seine Philosophie über Freiheit und Disziplin, wahres und falsches Leben entwickelt, nähert sich schnell ein Polizeiboot. Rawlin winkt und wirft den Beamten Getränke zu.

Steelbands, Salsa, Reggae und Calypso: In den heißen Nächten lungern die jungen Kerle um Johnno's den ganzen Hafen von Sandy Ground überdröhnende Beach Bar in der Hoffnung auf Inselschönheiten und Touristinnen.

Morgens früh wandern nur die Gärtner durch die Parkanlagen des sich maurisch mit Alhambra-Assoziationen gebenden Sonesta Beach Resort und stellen die Sprenkler an, bevor die Hitze ihren mittäglichen Höhepunkt erreicht. Wer im warmen, doch stets erfrischenden Meer schwimmt, hat den besten Blick auf das Resort: das glasierte grüne Ziegeldach auf rosafarbenen Mauern, wedelnde Palmen und Blütenkaskaden der Bougainvillien - eine Oase am Meer.

Das Personal wischt von Tischen, Stühlen und Liegen die feine Sand- und Salzschicht ab, die der Passat unmerklich, aber ständig ablagert. Wie bei vielen Hotelanlagen dieser Art bietet sich das Hauptgebäude als offene Halle mit kühlenden Wasserspielen, durch die der Wind ungehindert streicht. Beidseitig öffnen sich Flügel zum Strand hin in Arkaden mit Bar und Restaurant. An den Decken quirlen Ventilatoren nicht nur die Luft, sondern versetzen die Räume in andauernde, gleichwohl beruhigende Bewegung.

Alle Erkundungen führen auf die Haupttrasse über den langen, huckeligen Rücken Anguillas. Von ihr gehen Stichstraßen zu den Buchten der Luxushotels hinab, die wie herausgeschnittene Spezialterrains daliegen. Etwa die neueste Anlage, von der größten Kücheneinrichtungsfirma Amerikas, der kanadischen CuisinArt konzipiert. Ein Refugium mit Schönheitsfarm im Stil eines schneeweißen Mittelmeerdorfes. Mit ungeheurem Aufwand ist hier ein Musterparadies geschaffen worden, 25 000 Pflanzen, zahllose Oleander und Hibiski, Palmen und Bougainvilleen erwecken den Eindruck tropischen Überflusses. Und die weiten Rasenflächen sind so grün und teppichdick, als bewege man sich auf Golfplätzen in Merry Old England. Wie das möglich ist auf dem wasserarmen Anguilla?

CuisinArt hat ein eigenes unterirdisches Wasserreservoire angelegt, aus dem sich die Blütenpracht speist. Faszinierend aber ist nicht die Architektur à la mediterranée, sondern der Hydroponic-Garten, ein raffiniertes Gewächshaus, in dem - tatsächlich wohlschmeckende - Gemüse und Kräuter allein auf Nährflüssigkeiten gezogen werden.

Jenseits der Grundstücksgrenzen endet die Königspalmenherrlichkeit der Auffahrten abrupt, wuchert wildes Gestrüpp, wachsen Kakteen; Zikaden schrillen ihr Dauerlied, magere Ziegen suchen nach Nahrung, kleine freilaufende Hühner picken und nicken herum. Ab und zu streunende Hunde. An den bröckelnden Straßenrändern, im Gebüsch oder vor halb fertigen Behausungen der Einheimischen trüben die Reste sogenannter westlicher Zivilisation auch die schönsten Tropen ein und machen traurig: Plastikmüll, Getränkedosen, verrottende Autowracks, havariertes Mobiliar.

Bunkerartig, aber elegant

Inseln haben eigene Wahrnehmungsgesetze. Auf jeder Tour gibt Anguilla Neues preis. An der Cove Bay im Westen schwingt sich der Strand in eleganter Kurve. Gleich dahinter im Landesinneren breitet sich ein flacher Brackwasserpond aus, umgeben von Mangroven, deren Wurzelnetzwerke ins Meer reichen und Fischen und anderem Seegetier beste Brutmöglichkeiten eröffnen.

An der Strandbiegung ragen bunkerartige und doch elegante weiße Bauten auf. Fast abweisend zur Landseite, nur ein Balkon über dem Eingang und zwei beidseitig über den Hauptraum hinaus gezogene Shetdächer mit Fenstern. Wer aber eintritt, wird überwältigt, weil die gegenüberliegende Wand sich in ganzer Breite öffnet, pathetisch wie eine Cinemascope-Leinwand: Zum Meer hin mit dem Panorama von St. Maarten.

Die ungebrochene Höhe des Raumes bis zu den Shetdächern verstärkt das Gefühl von Weite und Freiheit. Myron Goldfinger aus New York hat diese Villen entworfen, seine Frau June hat sie als Innenarchitektin mit bequemsten Korbmöbeln eingerichtet. Hier gibt es keinen Fernseher, damit die Manager der Ostküste oder Stars wie Robert de Niro und Bruce Willis sich dem Stress der sonstigen Welt aufs Luxuriöseste entziehen können.

Wer auf dem Meer segelt, lernt, dass sich Raum und Zeit neu gestalten: weiter, gelassener. "Deswegen wollte ich immer aufs Meer!" Rawlin lacht, als er mit seinem Katamaran in Little Bay einschwenkt. Eine Zauberbucht, in der Pelikane in den Steilwänden nisten und das Türkis des Wassers so durchsichtig klar ist, als schwebe man im Schwerelosen.

Informationen:

Anguilla Tourist Board, c/o Sergat Deutschland, Im Güldenen Wingert 8c, 64342 Seeheim, Tel.: 06257/962920, Fax: 962919.Hotels: Covecastles, P.O.Box 248, Anguilla British West Indies (B.W.I), Tel. 001264-497-6801, Fax: 6051, Internet: www.cuisinartresort.comSonesta Beach Resort Anguilla, Rendezvous Bay West, P.O.Box 444. Anguilla, B.W.I, Tel. 001264-497-6999, Fax: 6899, Internet:www.west-indies-online.com/sonesta/default.html

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