Albanien:Tränen für den General

In Albanien wird Raki - anders als sonst auf dem Balkan - nicht aus Trauben gebrannt, sondern aus Wildpflaumen. Erst wenn der Herbst endet und sie reif vom Baum fallen, beginnt die Brennsaison.

Von Nikolai Antoniadis

Früher", sagt der General, "früher wärst du dafür erschossen worden." Er hat ein langes, schmales Gesicht, über das ganz plötzlich ein jungenhaftes Lächeln wehen kann, bevor es genauso schnell wieder zu Stein wird. "Mindestens lebenslang Gefängnis." Der General, Petro Marko, hat seinen Morgenspaziergang unterbrochen und sich zu seinem Nachbarn Dhimitër Ligori auf die Veranda gesetzt, an deren Wand eine kleine gerahmte Landkarte hängt. Sie zeigt die Straße, die sich durch die Apfelplantagen in der Ebene von Korça zu ihnen hinauf in die Berge, bis nach Dardhë windet. Als er noch im Dienst war, zu sozialistischen Zeiten, waren Karten ein militärisches Geheimnis. Niemand besaß welche. Manchmal muss er darüber lachen, denn diese alten Karten waren nicht nur streng geheim, sondern häufig auch falsch.

"Wären sie in feindliche Hände gefallen", sagt Dhimitër Ligori, "hätten wir dem Vaterland einen großen Dienst erwiesen."

Ligori ist Karikaturist, ein Mann mit einem sehr speziellen Humor. Neben der verbotenen Karte baumeln in den Ästen einer Glyzinie, die an der Vorderseite seines Hauses hinaufklettert, rostige Stahlhelme mit aufgemalten SS-Zeichen. Er gehörte zu den wenigen, die vor dem Fall des sozialistischen Systems ins Ausland reisen konnten, nach Westdeutschland, wo er 1988 eine Ausstellung seiner Karikaturen begleitete. Inzwischen ist er, genau wie der General, lange in Rente. Eingewickelt in eine dicke Decke, das Haar sorgfältig von links nach rechts über das schüttere Haupt gekämmt, sitzt er jeden Morgen mit dem General auf seiner Veranda und trinkt Raki.

In Albanien gehört es zur guten Sitte, einem Gast oder einem Freund - für beides wird häufig dasselbe Wort, mik oder miku, verwendet - zur Begrüßung einen Schnaps anzubieten. Die Tageszeit ist nebensächlich. Über dem Haus flieht der Frühnebel vor der Sonne, die zwischen den Bergen aufgegangen ist und durch die Rosensträucher und Wildpflaumenbäume im Garten scheint. Und während sie anstoßen und über die alten Zeiten sprechen, sehen sie, wie sich unter ihnen am Hang dünne Rauchsäulen aus den Schnapsdestillen des Dorfes in der frischen Morgenluft kräuseln.

Wenn der Herbst endet, beginnt die Brennsaison. Anders als sonst auf dem Balkan wird Raki in Albanien aus Wildpflaumen, nicht aus Trauben gebrannt. Sie werden nicht gepflückt, sondern eingesammelt, wenn sie reif vom Baum fallen. Auf dem Weg durch die Dörfer im Süden Albaniens ist das Geräusch der Früchte, die auf die Wellblechdächer der Scheunen, die hölzernen Terrassendächer, auf ausgebreitete Plastikplanen oder Ziegel und Schiefer fallen, ein ständiger Begleiter. In dieser Zeit begegnet der General jeden Morgen im Halblicht seinen Nachbarn, die in den schmalen Gassen, zwischen schwarzen Holundersträuchern und den Beeten mit Bohnen und taubenetzten blauen Kohlköpfen, Pflaumen auflesen. Die albanischen Schnapsbrenner haben buchstäblich jede Pflaume, die sie brennen, in der Hand gehabt.

Schnapsbrennen folgt einem eigenen Rhythmus: einer Mischung aus geschäftiger Eile und Ruhe

Die bunten Plastiktonnen, in denen die Früchte mehrere Wochen lang vergoren werden, sind allgegenwärtig, in jedem Garten stehen sie in der Sonne. Nur Vangjo Keci lässt seine Pflaumen in Holztonnen gären, die sein Vater vor Jahrzehnten in Italien gekauft hat. Der groß gewachsene, schüchterne Mann betreibt die ehemalige Gemeinschaftsdestille des Dorfes, in der zu Zeiten des Sozialismus jeder gegen eine kleine Gebühr brennen durfte. Nach der Wende haben die meisten dann eigene Destillen eingerichtet. Allein in Dardhë gibt es 34 Brennereien, manche sind nicht mehr als grob gemauerte Feuerstellen, andere in Holzschuppen untergebracht, inmitten von Tomatenbeeten oder in windschiefen Häuschen aus moosbewachsenen Feldsteinen. Das Licht einer nackten Glühbirne und der Schein der Flammen werfen unruhige Schatten auf die alten Mauern.

Schnapsbrennen folgt einem eigenen Rhythmus: einer Mischung aus geschäftiger Eile und Ruhe, wenn der kupferne Kessel mit Maische gefüllt wird, die Rohre mit Lehm und nassen Lappen umwickelt werden, um sie abzudichten. Drei bis vier Stunden dauert ein Brenngang. Holz nachlegen und hin und wieder kosten, wann der ungenießbare Vorlauf sich aufklart und zu reinem Brand wird, dem Herzstück, der "Träne der Jungfrau". Beinahe jeder Haushalt brennt Schnaps. Die kalte Bergluft auf Dhimitër Ligoris Veranda ist angefüllt mit dem Geruch vergorener Früchte, von verbranntem Holz, nassem Lehm. Die Männer und Frauen, die abends in die Taverne von Ilir kommen, tragen den Geruch noch in den Kleidern. Wenn sie gehen, atmen sie ihn.

Der tägliche Gang des Generals endet üblicherweise in Ilir Delis Taverne. Am Abend sitzt dort das halbe Dorf bei einem Gläschen Raki zusammen um einen alten, gusseisernen Ofen. Er trägt ein Datum, 1922, und eine Plakette mit der Aufschrift "Boston, Massachusetts". Öfen wie diesen sieht man häufig in den Häusern von Dardhë. Verwandte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgewandert waren, hatten sie in ihre Heimatdörfer geschickt. Heute werden die Einwohner von Dardhë von ihren Nachbarn wegen ihrer Geschichte etwas geringschätzig als "Amerikaner" bezeichnet, denn als das kommunistische System 1991 gefallen war, beantragten viele von ihnen amerikanische Pässe, weil viele ihrer Vorfahren US-Bürger geworden waren; fast jeder in Dardhë besitzt heute einen amerikanischen Pass. Das Dorf ist wohlhabend, während die anderen Dörfer auf Dhimitër Ligoris verbotener Karte immer noch so aussehen wie Dardhë vor 20 Jahren.

Reiseinformationen

Anreise: Flug nach Tirana mit Adria, Lufthansa oder Austrian ca. 250 Euro hin und zurück. Von Tirana fahren mehrmals täglich Busse nach Korça (etwa acht Euro), eine Strecke von ca. 200 Kilometern. Von Korça nach Dardhë kostet ein Taxi etwa zwölf Euro. Manche Unterkünfte haben auch Abholdienste.

Übernachtung: In Dardhë gibt es drei Hotels: Hotel Dardha, DZ ab 40 Euro, Tel.: 00355 / 682 06 03 61; Hotel-Taverna Mihallari: DZ ab 15 Euro, Tel.: 00355 / 692 14 85 75; Hotel Shtepia e Gjuetarit, etwas abseits des Dorfs, DZ ab 30 Euro, Tel.: 00355 / 69 73 717 72. Apartments vermietet Ilir Deli über der Taverna Ilir, Tel.: 00355 / 692 12 85 41. Und schließlich vermietet die Familie Ktona ein kleines Guest House, Kosten pro Tag 30 Euro, Tel.: 00355 / 693 78 78 98.

In dem Fleckchen Sinicë, eine gute Stunde entfernt von Dardhë, sind die Wege nicht beleuchtet, unbefestigt und teilweise nur benutzbar, weil die Einwohner Holzplanken in den Schlamm gelegt haben. Ein Bach teilt das Dorf in zwei Hälften, eine islamische und eine christliche. Wenn im Herbst gebrannt wird, werden von beiden Seiten die Maischereste nach jedem Brenngang in den Bach gekippt, dünne Rinnsale, die sich zu einer gemeinsamen dunkelroten Spur vermengen, bevor sie sich im Wirbel des Wassers verlieren.

Genau an dieser Grenze, an einer alten Steinbrücke, steht der Laden von Afrim: ein Häuschen mit einem kleinen Schankraum, in dem sich die Männer der beiden Dorfhälften beim Raki treffen. Einen Teil seines Rakis verkauft Afrim an Ilirs Taverne. Einmal in der Woche belädt er sein Pferd und reitet nach Dardhë, anders sind die Bergpfade zwischen den Dörfern kaum zu bewältigen. Ilirs Taverne ist gut besucht: Der General ist da; ein Mann namens Gole, der immer schläfrige Augen hat und dessen Mutter in dem Ruf steht, den saubersten Raki weit und breit zu brennen; der ehemalige Schuldirektor Koli Skendë, inzwischen 84 Jahre alt, der seit 1957 jeden Tag von Dardhë zur Schuldirektion im Nachbardorf Arrzë gegangen ist, im Winter auf Skiern, die er bergauf trug, bergab fuhr - 28 Jahre lang, eine Strecke, die man mit Mühe in einer Stunde bewältigt, wenn man jung und bei guter Gesundheit ist. Er macht sich deshalb über Dhimitër Ligori lustig. Der sei zwar erst 80, habe aber immer nur den Pinsel geschwungen, weshalb er nun den ganzen Tag auf seiner Veranda sitzen müsse. Viele der Gäste, die an den Tischen neben ihm sitzen, haben bei ihm die Schulbank gedrückt. Ein Mann mit dichtem weißem Haarschopf und einer mächtigen Hakennase erinnert sich noch gut daran, dass Skendë streng war; aber ihm habe er viel zu verdanken. "Man kann über Enver Hoxha sagen, was man will", sagt er, "aber er hat es geschafft, uns allen Lesen und Schreiben beizubringen. Er hat uns Lehrer wie Koli Skendë geschickt. Bei ihm habe ich Tolstoi gelesen, Homer, die ,Drei Kameraden' von Remarque, Shakespeare. Überleg mal! Mein Vater wusste nicht, mit wie vielen Nullen man 100 schreibt, und ich habe Shakespeare gelesen!"

Weil an Wochenenden häufig Gäste aus Korça hinauf in die Berge kommen, hat Ilir Deli einen Kellner eingestellt, einen jungen Mann, der "kinez" gerufen wird, "der Chinese", wegen seiner schräg stehenden Augen. Für eine größere Gesellschaft hat er heute mehrere Tische zusammengeschoben, die Entourage eines Zauberers, der am kommenden Morgen beim Bürgermeister von Korça wegen einer Show bei der Miss-University-Wahl vorsprechen will. Das hält ihn nicht davon ab, Raki in rauen Mengen zu trinken. Später lässt er sich von einer jungen Frau Rasierklingen aus dem Mund ziehen und zaubert Geldscheine aus ihrem Ohr, während hinter ihm an der Wand der Fernseher dröhnt. Je weiter der Abend voranschreitet, desto näher rücken die Tische an den Ofen. Alle trinken Raki aus Saftgläsern, die Ilir Deli großzügig nachfüllt. Zwischendurch brät der Wirt frische Butterpilze, die seine Frau am Morgen zwischen den Fichten am Berg gepflückt hat, oder öffnet unter großem Aufsehen Bierflaschen mit seinem Ehering. Auf dem Weg zwischen Herd und Schankraum wählt er auf dem Computer am Tresen Youtube-Videos aus, albanische Schlager, die auf Griechisch gesungen werden. Es kümmert ihn nicht, dass der Fernseher läuft.

Es wird, wie oft, spät bei Ilir Deli. Die letzten Gäste haken sich ein, um sich in der Dunkelheit gegenseitig zu stützen, bis ihre Wege sich trennen. Auf dem Heimweg sieht man hin und wieder die Lichtkegel ihrer Taschenlampen zwischen den Häusern flackern. Manchmal weht der Wind noch leise Stimmen herüber. Dann wird es still in Dardhë. Nur noch das Rauschen der Fichten ist zu hören. Und hin und wieder das Poltern der Wildpflaumen.

Von Nikolai Antoniadis und Nele Gülck zuletzt erschienen: Das helle Herz des Balkans. Geschichten zwischen Adria und Istanbul (Corso Verlag).

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