"Wir sind Viele" - Anklage gegen den Finanzkapitalismus:Gott liebt die Zornigen

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Der Zorn ist eine Todsünde, sagen Theologen. Doch das Beispiel Jesus zeigt: Der Zorn kann eine Christenpflicht sein. Man kann die Occupy-Bewegung als Exorzismus verstehen, als Besetzung der Finanzplätze mit besseren Geistern.

Auszug aus der Streitschrift der Süddeutschen Zeitung Edition.

Occupy - so heißt der neue Widerstand. Das Anliegen dieser Befreiungsbewegung ist, zu verhindern, dass aus der Krise des globalen Kapitalismus eine globale Krise der Demokratie wird, schreibt Heribert Prantl in seiner soeben erschienenen Streitschrift Wir sind Viele - Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus . Der politische Leitartikler der Süddeutschen Zeitung geißelt darin die radikale Ökonomisierung der Politik und des öffentlichen Lebens, ergreift Partei für den Protest und fordert neue Regeln für ein sozialverträgliches Wirtschaften als Voraussetzung für inneren Frieden. Er wirbt für eine gewaltfreie, produktive Unruhe von Millionen Menschen, die tun wollen, was Demokratie heißt: Gemeinsam die Zukunft gestalten. Auszüge aus der Streitschrift, die Sie im SZ-Shop bestellen können.

Viele gegen einen: Vor der New Yorker Börse versuchen Occupy-Demonstranten, einen Geschäftsmann am Betreten des Gebäudes zu hindern. (Foto: AFP)

Man könnte versucht sein, an Weihnachten einmal eine andere Krippe aufzustellen, nicht die idyllische Krippe, nicht die mit den Schafen, Hirten und dem Jesulein-Jesus, sondern eine Krippe, in der zweitausend Schweine stehen. Nein, das ist keine Blasphemie. Die Geschichte mit den zweitausend Schweinen ist eine Geschichte aus dem Evangelium nach Markus. Es ist eine Geschichte über gute und böse, reine und unreine Geister. Es ist eine biblische Geschichte, auf die man stößt, wenn man darüber nachdenkt, wohin eine Welt kommt, der die Gabe und die Kraft fehlt, zwischen guten und bösen Geistern zu scheiden.

Von unreinen Geistern ist in den Evangelien die Rede, wenn es um die Heilung von Besessenen geht - zum Beispiel im Evangelium von der Heilung des Besessenen aus Gerasa. Als Jesus dort ankam, kam ihm ein "Mensch mit einem unreinen Geist" entgegen - ein tobender Mensch, einer, vor dem alle Angst hatten, ein Mensch, den nichts und niemand halten konnte. Im ganzen Neuen Testament begegnen wir keiner weiteren Darstellung von solch unheimlicher Zerrissenheit, solcher Ohnmacht und solchem Ausgeliefertsein mehr. Die Heimat dieses tobenden Menschen ist die Heimatlosigkeit, sein Leben das Unleben, seine Kontaktform die Kontaktvermeidung. Er hatte, so steht es bezeichnenderweise da, "seine Wohnung in den Grabhöhlen".

Man hatte versucht, so berichtet es der Evangelist Markus, ihn mit Fußfesseln und Ketten zu binden; er zerriss die Ketten und er zerrieb die Fußfesseln. "Und niemand vermochte ihn zu bändigen." Es schien, als sähe dieser wüste Mann die ganze Welt nur durch die Schleier der Zerstörung. Und was machte Jesus? Als der Ungeist auf den Befehl, auszufahren (also zu verschwinden), nicht reagierte, redete er mit ihm und er fragte den Dämon, der in diesen Menschen gefahren ist, nach seinem Namen. "Wie heißt du?"

Es ist dies die einzige Frage, die zu helfen vermag. Eugen Drewermann hat darauf hingewiesen, dass in der Psychoanalyse im Grunde nichts anderes geschieht, als dass diese eine Frage immer wieder mit anderen Worten geduldig gestellt wird: "Wer bin ich selber?", "Was lebt in mir?", "Was ist mein Wesen?" Und der Dämon antwortet: "Legion ist mein Name, denn unser sind viele."

Wenn der Ungeist in die Schweine fährt

Der tobende Mensch, der Besessene aus Gerasa, hat kein eigenes Ich mehr, mit dem man reden könnte. Stattdessen existiert in ihm eine Vielzahl von Handlungs- und Denkgewohnheiten, die sich verselbständigt haben, in ihm stecken Ängste, Zwänge und Handlungsmuster. Jesus erlaubt es dem Besessenen, die unreinen Geister in eine Herde von Schweinen fahren zu lassen (also in die Tiere, deren Genuss Mose verboten hatte). Es ist ein furchtbares Ausagieren aller bisher verinnerlichten Aggression und Gewalt, die jetzt nach außen drängt und sich entlädt. Und dann heißt es bei Markus: "Die Herde aber stürzte sich dann hinunter in den See, etwa zweitausend an der Zahl, und sie ertranken im See." Der Besessene ist geheilt, sein unheimliches Wesen ist verschwunden; er wird von Jesus beauftragt, zu verkünden, was der Herr an ihm tat und wie er sich seiner erbarmte. Der Mann hatte schon auf Erden wie in der Hölle gelebt und er kehrte in der Nähe Jesu vom Tod ins Leben zurück. Jesus schickt ihn nach Hause. Er soll Ruhe finden.

Es ist dies eine Exorzismus-Geschichte. Solche Evangelien klingen schon einigermaßen suspekt: Man denkt an Verschwörung und Aberglauben, an finstere Filme und an Schauerromane. Es steckt aber ein tiefer, ein existentieller Ernst in solchen Geschichten: Sie handeln vom Ungeist, der die Menschen zerfrisst. Sie handeln von dem Ungeist, der zur Verwahrlosung der Menschen und der Gesellschaft führt. Der Dämon des Evangeliums vom Besessenen von Gerasa ist die zerstörerische Variante des Freigeistes: es ist der Geist der pervertierten Freiheit, der keine Bindungen akzeptiert, der sie zerreißt, es ist der Geist der Hemmungslosigkeit und der Gier. Es ist der Geist, der den Turbo des Kapitalismus, den Turbokapitalismus antreibt. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat das 1998 in seinem Werk "Der flexible Mensch" beschrieben, er hat dargelegt, wie sich der "Freigeist" des Kapitalismus auswirkt: Der Mensch, der freigesetzt von seinen Wurzeln und Bindungen flexibel überall einsetzbar ist, ist zugleich Opfer und Idealtypus des Kapitalismus. Insofern ist der Besessene eine schillernde Figur: Er ist Treiber und Getriebener zugleich.

Schickt Exorzisten zu den Analysten

Wie viele Zwänge, Ängste und Muster spiegeln sich in diesem System? Wie viel Freiheit hat jemand, der gierig ist und sich selbst funktionierend diesem System unterwirft? Vielleicht bräuchten viele Finanz-Analysten den Besuch eines guten Exorzisten, einen Ungeist-Austreiber, einen, der sie heilt. Man kann "Occupy", die Occupy-Bewegung als Exorzismus im erweiterten Sinn verstehen: Als eine "Besetzung" der Finanzplätze mit besseren Geistern - mit dem Geist der Verantwortung und dem Geist der Sorge für das Gemeinwohl. Befreiung heißt ja nicht, von jedem Geist verlassen zu werden, sondern von einem anderen, einem guten Geist erfüllt zu werden. Das können die Finanzplätze brauchen.

Das Markus-Evangelium über den Besessenen von Gerasa ist ein Occupy-Evangelium: Es handelt von den Besessenen auf den Finanzmärkten, die bisher niemand zu bändigen vermochte; es handelt von der globalisierten Wirtschaft, die nicht mehr im Dienste des Menschen steht, weil sie alle Bindungen gesprengt hat. Und dann geht einem der Satz unter die Haut, den der Besessene von Gerasa spricht: "Legion ist mein Name, denn unser sind viele." Wie gesagt, das alles ist krippenmäßig ein wenig schwer darstellbar. Aber eine andere aktuell durchaus einschlägige Szenerie ist in Jahreskrippen sehr wohl zu sehen, eine Szenerie, in der es auch um eine Austreibung geht - um die sogenannte Tempelreinigung, die ja nicht so heißt, weil Jesus den Tempelboden geputzt hätte, sondern weil er falsche Einstellungen, den Geist der Habsucht, der Gier, den Geist des ökonomischen Exzesses aus dem Tempel hinauswarf. In dieser Szene steht Jesus mit heiligem Zorn im Tempel, eine Geißel aus Stricken in der Hand, er stürzt die Tische um und wirft die Händler und Geldwechsler hinaus, die das "Haus des Vaters" zur Räuberhöhle gemacht haben.

Dieser Tempel ist nämlich nicht allein ein Ort des Gebets. Er ist das Zentrum der Religion, das Zentrum der Politik und Zentrum der Wirtschaft, ein Machtzentrum in jeder Hinsicht also. Er ist zugleich eine riesige Bank, Ort des Tempelschatzes, Depot für die Wertsachen der Reichen, Ort der Geldvermehrung. In den folgenden drei Tagen diskutiert Jesus mit seinen Gegnern unter anderem Steuerfragen, Fragen der Auferstehung und nach dem höchsten Gebot. Sie versuchen, ihn listig mit ihren Fragen in die Enge zu treiben und ihm Verrat an Gott und dem Kaiser nachzuweisen.

Zorn als Christenpflicht

Der Weihnachtskrippen-Jesus ist ein putziges Kind; der Tempel-Jesus ein gefährlicher Mann. Die Schriftgelehrten suchten von diesem Ereignis im Tempel an nach einer Gelegenheit, ihn umzubringen. Der Zorn Gottes macht den Theologen bis heute gewisse Schwierigkeiten, weil er nicht zu passen scheint zur sanftmütigen Radikalität der Bergpredigt. Aber wenn Gott Mensch geworden ist, wie es die Weihnachtsgeschichte sagt, dann tut es gut, wenn dieser Mensch so menschlich reagiert - und damit auch den Zorn gegen den Finanzkapitalismus, der die Bürger gepackt hat, erhebt.

Der Zorn sei eine Todsünde, sagen Theologen. Der Zorn kann eine Christenpflicht sein, zeigt das Beispiel des Jesus - wenn er eine Leidenschaft ist, die aus dem Leiden wächst, aus der Trauer über erlittenes Unrecht. Dann reißt der Zorn die Trauer heraus aus der Depression; dann ist der Zorn das Gegenteil der verbreiteten Kann-man-eben-nichts-machen-Haltung; dann ist er etwas anderes als Wut. Ein Wüterich will sich abreagieren. Der Zornige will agieren. So ein Zorn gegen die Ungerechtigkeit steht in biblischer Tradition. Schon der Prophet Jesaia grollt: "Deine Fürsten sind eine Bande von Dieben, sie lassen sich gern bestechen und jammern Geschenken nach. Sie verschaffen den Waisen kein Recht, und die Sache der Witwen gelangt nicht vor sie." Auf dass wir uns nicht falsch verstehen: Jesus ist kein Wutbürger. Sein Zorn ist nicht zu verwechseln mit Wut. Ein Wüterich verliert den Kopf. Der Zornige bewahrt sich den Verstand.

Gott liebt die Zornigen. Aber selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen - sagt die Bergpredigt. Aber die Sanftmütigen brauchen dazu die Zornigen, die das Erdreich verändern. Aber der Zorn braucht die Sanftmut, damit er nicht bösartig wird. Aber die Sanftmut braucht den Zorn, damit sie nicht zur Harmlosigkeit verkommt.

Auszug aus: Heribert Prantl, Wir sind Viele. Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus - zum SZ-Shop.

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