Zweiter Weltkrieg und Vertreibung:Ohne Heimat, unterwegs

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Ohne Vertriebenenpathos erzählt der Auslandsreporter Olaf Ihlau von der Flucht seiner Familie aus Königsberg. Er schildert auch die Stationen seiner Kindheit - und Begegnungen mit späteren Berühmtheiten.

Von RAINER STEPHAN

Heimat muss nicht der Ort sein, wo wir zu Hause sind. Eher ist es der Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen, und das ist oft der, wo wir aufgewachsen sind und von dem aus es uns in die Welt verschlagen hat. Dann spüren wir die Sehnsucht nach Rückkehr, und spüren sie besonders qualvoll, wenn uns die Rückkehr schwer oder unmöglich gemacht wird. Diese Qual kann sich unter der Hand zur Obsession entwickeln, so sehr, dass den Vertriebenen ihr Vertriebensein selbst als ideelle Ersatzheimat erscheint.

Verlorene Heimat, Vertreibung, Flucht - die aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße stammende deutsche Generation, die Migration statt als Bedrohung von außen noch als eigenes Schicksal erlebte, stirbt allmählich aus. Dass sie vielen als Inkarnation des ewig Gestrigen erschien, war weniger ihre Schuld als die der Vertriebenenverbände und einer von ihnen beeinflussten Literatur, der die Beschwörung des Vergangenen, ja des Untergegangenen nicht selten zur manischen Pose geriet. Bei der nicht vertriebenen Mitwelt erzeugte dies weniger Betroffenheit als Befremden.

Olaf Ihlaus "Der Bollerwagen" grenzt sich gegen derlei Posen deutlich ab. Der Bericht über die Flucht seiner Familie aus Königsberg über das Sudetenland und Berlin nach Bayern meidet jedes Vertriebenenpathos. Mehr noch: Der Journalist Ihlau, der als Auslandsreporter und außenpolitischer Redakteur unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und danach lange für den Spiegel arbeitete, bleibt bei der Mischung historischer Information mit persönlichen Erinnerungen - seinen eigenen wie denen seiner Eltern - nüchtern bis ans Herz.

Seine Mutter, mit der er den größten Teil seines Wegs aus dem zerbombten Königsberg nach Traunstein erlebte, nennt er "die Königsbergerin" oder, nach ihrem ursprünglichen Beruf, "die Schauspielerin"; der Vater, der als Soldat erst am Ende der Flucht wieder zur Familie stieß, sich dann in Traunstein mühevoll einen Ruf und bescheidene Arbeitsmöglichkeiten als Komponist erwarb, bevor er eine Anstellung als Tonmeister beim WDR erhielt und mit der Familie aus dem ungeliebten Bayern nach Westdeutschland zog, figuriert durchgängig als "der Hannoveraner".

Wo waren die Ihlaus daheim? Ihr Leben stellt sich als Folge von Ortswechseln dar, stets begleitet von jenem Bollerwagen, der, mit ein paar Gepäckstücken beladen, die Flucht aus dem Osten und alle späteren Umzüge mitmachte: kein Heimatsymbol, sondern eher eines des andauernden Unterwegsseins. Nebenbei streift Ihlaus Bericht auch Punkte seiner Biografie nach der Flucht.

Am Rande tauchen hie und da prominent gewordene Zeitgenossen auf: die jungen Brüder Ratzinger etwa, denen das Flüchtlingskind in Traunstein beim Straßenfußball begegnet, oder der Schauspieler Michael Degen als älterer Partner des als Teenager noch mit einer Bühnenkarriere liebäugelnden Autors.

Dass Ihlau schließlich einen Beruf suchte und fand, der ihn zum ständigen Unterwegssein nötigte, stellt sich dem Leser als nahezu unausweichliche Folge des Vertriebenseins dar. Der Autor selbst allerdings, auch hier sorgsam auf der Hut vor aller Sentimentalität, stellt diesen Zusammenhang nicht explizit her. Wo seine Geschichte uns ergreift, ergreift sie uns durch ihre Lakonik.

© SZ vom 07.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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