Venezuela:An der Reisgrenze

Lesezeit: 3 min

Endlich mal Klopapier und andere Dinge des täglichen Bedarfs kaufen: Venezolaner auf dem Rückweg aus Kolumbien. (Foto: George Castellanos/AFP)

Hunger und Not treiben Zehntausende ins Nachbarland Kolumbien. In der Hauptstadt Caracas versucht Präsident Maduro derweil, mit immer neuen Absurditäten sein gescheitertes System zu retten.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Die Simón-Bolívar-Brücke, die über den Fluss Táchira führt, ist seit Monaten offiziell geschlossen. Sie verbindet die Städte Cúcuta und San Antonio. Eine liegt in Kolumbien, die andere in Venezuela. Hier verläuft die Reisgrenze, die auch eine Zuckergrenze, eine Mehlgrenze, eine Medikamentengrenze sowie die Klopapiergrenze ist. All diese Dinge sind auf der östlichen Flussseite entweder nicht mehr zu haben oder nicht mehr zu bezahlen. Der sozialistische Krisenstaat Venezuela erlebt seit Monaten einen beispiellosen Versorgungsnotstand, die zentrale Alltagsfrage vieler Venezolaner lautet inzwischen: Wo bekommen wir etwas zu essen?

An die 130 000 haben sich am vergangenen Wochenende für einen Einkaufsmarsch nach Kolumbien entschieden. Polizisten und Soldaten beider Nachbarländer standen Spalier, als Männer, Frauen und Kinder im Tropenregen mit Kartons, Tüten und Koffern die 300 Meter lange Brücke überquerten. Die meisten Venezolaner kehrten nach Angaben der kolumbianischen Behörden noch am selben Tag in ihr Land zurück - mit allem, was sie tragen und bezahlen konnten. Einige von ihnen berichteten lokalen Medien, sie hätten 15 000 Bolívares ausgegeben. Das entspricht zwei venezolanischen Mindestlöhnen - und derzeit etwa 15 US-Dollar zum Schwarzmarktwechselkurs. Ein kleines Vermögen. Aber wer weiß, wann sich wieder solch eine Gelegenheit ergibt?

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hatte vor einer Woche erstmals einer kurzzeitigen Grenzöffnung zugestimmt. Offenbar war sein Ziel, ein wenig Druck abzulassen aus seinem spätsozialistischen Hochdruckkessel. Ob der Plan aufgeht, darf bezweifelt werden. Vor zehn Tagen hatten fünfhundert Frauen nach einem Aufruf der venezolanischen Opposition versucht, die Bolívar-Brücke zu überqueren, um in Kolumbien einzukaufen. Die Grenzschützer ließen sie nach einem kurzen Handgemenge gewähren. Maduro sprach von einem "humanitären Korridor". Daraus hat sich in kürzester Zeit eine Massenbewegung entwickelt.

Am vorvergangenen Wochenende kamen 35 000 Venezolaner zum verkaufsoffenen Sonntag nach Cúcuta. Eine Woche später drängten samstags schon 44 000 und sonntags 88 000 über die Grenze. Einige skandierten nach Augenzeugenberichten "Danke, Kolumbien!" und "Freiheit für ein paar Stunden, aber immerhin Freiheit!" Die Szenen führen der Welt ein weiteres Mal vor Augen, wie dramatisch die Lage in Venezuela inzwischen ist.

Die Regierung Maduro folgt ihrem bekannten Muster: Schuld sind immer die anderen

Präsident Maduro hatte die Übergänge der gut 2200 Kilometer langen Grenze im August 2015 sperren lassen. Dabei ging es nach seiner Darstellung darum, paramilitärischen Schmugglerbanden aus Kolumbien das Handwerk zu legen. Tatsächlich blüht in der Gegend seit Jahren das Geschäft mit subventioniertem Benzin aus Venezuela, das am anderen Ufer ein Vielfaches wert ist. Der konservativen Regierung in Bogotá wirft Maduro vor, den Schmuggel zu tolerieren, um sein Land zu destabilisieren. Laut Caracas ist das einer der Hauptgründe für das venezolanische Elend. Das folgt Maduros bekanntem Muster: Schuld sind immer die anderen.

Inzwischen erkennen aber auch einstmals überzeugte Chavisten, dass es nicht nur an äußeren Umständen liegen kann, wenn im ölreichsten Land der Welt die Lebensmittel ausgehen. Im Hunger vereint gehen die Venezolaner auf die Straße, demonstrieren, plündern, durchbrechen Grenzen. Regelmäßig gibt es Tote und Verletzte. Längst gilt Caracas als die gefährlichste Stadt der Welt außerhalb der Kriegsgebiete. In Venezuela wird schon seit Jahren praktisch nichts mehr außer Erdöl produziert, wegen des Preisverfalls fehlen aber die Devisen, um Lebensmittel zu importieren.

Maduro versucht derweil, mit immer neuen Absurditäten das längst gescheiterte System zu retten. Mal ruft er eine Zwei-Tage-Arbeitswoche aus, um Energie zu sparen, mal animiert er die Bevölkerung zur Hühnerzucht. Das Ergebnis ist immer gleich: Die Schlangen vor den Supermärkten werden länger und die Regale leerer. Jetzt sollen offenbar die Streitkräfte die Wende herbeiführen. Vergangene Woche ordnete Maduro "die vollständige Kontrolle über die Versorgung des Landes" durch das Militär an. Häfen und Flughäfen wurden von Soldaten besetzt. Wer etwas zu essen und Medikamente bekommt, entscheidet damit de facto der Verteidigungsminister Vladimir Padrino.

Der angeschlagene Präsident spielt mit der Militarisierung offenbar seine letzte Karte. Ein Sprecher des Oppositionsbündnisses MUD sagte, Maduro habe, "die Schlüssel zum Präsidentenpalast an einen Militärführer übergeben". Der "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD) stellt seit den Wahlen Ende 2015 die Mehrheit in der Nationalversammlung. Noch gelingt es Maduro, mit Notstandsdekreten und einer offensichtlich parteiischen Justiz am Parlament vorbeizuregieren. Der MUD treibt ein Abwahlreferendum gegen den Präsidenten voran, bislang vergeblich. Es ist ein Spiel auf Zeit. Nur wenn Maduro noch in diesem Jahr stürzt, also vor Ablauf der ersten Hälfte seiner Amtszeit, gibt es Neuwahlen. Ansonsten rückt Vizepräsident Aristóbulo Istúriz nach.

Man braucht keine Demoskopen, um zu ermessen, was es für das gegenwärtige Regime bedeuten würde, wenn noch in diesem Jahr eine Wahl stattfände in Venezuela. Dazu genügt ein Blick auf die Simón-Bolívar-Brücke.

© SZ vom 19.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: