Venezuela:Adiós Demokratie

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Alltag in den Straßen Venezuelas: Regierungskritische Demonstranten flüchten vor Polizisten in San Cristobal. (Foto: Carlos Eduardo Ramirez/Reuters)

Bislang hat Präsident Maduro das Parlament nur weitgehend ignoriert. Jetzt setzt er zum Frontalangriff an. Abstimmungen, die er verlieren könnte, werden gekippt. Die Opposition spricht von Staatsstreich.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Laut der Verfassung von 1999 ist die Bolivarische Republik Venezuela immer noch eine Präsidialdemokratie. Der 2013 verstorbene Revolutionsführer Hugo Chávez hat sie nach seinen Vorstellungen entworfen. Lupenrein war sie nie, seine Demokratie. Je nach politischem Standpunkt konnte man immerhin darüber streiten, ob es sich bei Chávez' Erdölpopulismus um ein großes gesellschaftliches Projekt mit einigen Schwächen handelte oder um ein autokratisches Himmelfahrtskommando mit einigen sozialen Errungenschaften. Unter seinem Nachfolger, dem ehemaligen Busfahrer Nicolás Maduro, erübrigt sich diese Debatte. Spätestens seit dieser Woche lässt sich offiziell vermelden: Venezuela hat mit der Demokratie gebrochen.

Vor zehn Monaten fanden im mutmaßlich erdölreichsten Staat der Welt die bislang letzten freien Wahlen statt. Seither hält die konservative Opposition eine scheinbar komfortable Zweidrittelmehrheit im Parlament von Caracas. Laut der Verfassung hätten Maduros demokratisch legitimierte Gegner damit weitreichende Befugnisse. Sie dürften oberste Richterposten besetzen, politische Gefangene freilassen, eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, das System ändern sowie nicht zuletzt ein Referendum zur Abwahl des Präsidenten durchsetzen.

Chavistische Funktionäre jagen Parlamentarier aus dem Parlament

Der Opposition mangelt es nicht am Willen, solche Dinge anzupacken. An ihr liegt es nicht, dass bislang nichts davon geschehen ist. Maduros Chavisten haben in den zurückliegenden Monaten an der Parlamentsmehrheit systematisch vorbeiregiert. Sie haben die Legislative schlichtweg ignoriert. In diesen Tagen scheinen sie ihre Taktik zu ändern.

Jetzt gehen sie zum Frontalangriff über. Erst wurden die für Dezember geplanten Regionalwahlen abgesagt, dann das Referendum zur vorzeitigen Abwahl Maduros gestoppt. In beiden Fällen gibt es nur einen logischen Grund: Die Chavisten hätten beide Abstimmung haushoch verloren. Während einer außerordentlichen Parlamentssitzung am Sonntag, bei der die Blockade des Referendums mehrheitlich als Staatsstreich verurteilt wurde, stürmten etwa 300 Regierungsanhänger den Saal - angeführt von dem hochrangigen chavistischen Parteifunktionär Jorge Rodríguez. Sie schlugen Oppositionsabgeordnete in die Flucht und riefen: "Der Kongress wird fallen!" Der gravierende Vorfall ist bestens dokumentiert, weil die Angreifer so frei waren, Handybilder von ihrem Überfall auf die Demokratie zu verbreiten.

Wie also soll man ein Land nennen, in dem Parlamentarier aus dem Parlament gescheucht und Wahlen nach Gutdünken abgesagt werden, in dem es keine Meinungsfreiheit gibt, keine Pressefreiheit und in dem jeder Mensch willkürlich verhaftet werden kann? Einer, der gewiss nicht dazu neigt, die Lage zu dramatisieren, Präsident Maduro selbst nämlich, sagte dieser Tage: "In Venezuela gibt es keine Diktatur, sondern ein dictapueblo." Am ehesten kann man das wohl mit dem im 19. Jahrhundert geprägten Begriff der "Diktatur des Proletariats" übersetzen. Damit war die Herrschaft der ausgebeuteten Arbeiterklasse über die der ausbeutenden Kapitalisten gemeint, die einer Mehrheit über eine Minderheit also. Das Regime Maduro allerdings beruft sich auf ein Volk, das ihm längst den Rücken gekehrt hat. Im Venezuela des Jahres 2016 klammert sich eine korrupte Clique an die Macht, die inzwischen selbst in einstmals chavistischen Hochburgen verachtet wird. Sie nennen sich Sozialisten, Kleptomanen mit roten Fähnchen träfe es besser. Einzig und alleine mithilfe der ebenfalls korrupten Armeeführung halten sie sich im Amt.

Nicolás Maduro hat offensichtlich beschlossen, sich weiter zu radikalisieren, um politisch zu überleben. Er hofft, ein steigender Ölpreis könnte Venezuelas Versorgungskrise beenden und ihn irgendwann retten. Bislang geht diese Strategie auf, auch weil ein internationaler Aufschrei ausbleibt. Einzig die weitgehend zahnlose Organisation Amerikanischer Staaten bezeichnet Venezuela als das, was es derzeit ist: eine Diktatur. Unter Regierungsgegnern wächst die Überzeugung, dass es sich nicht mehr lohnt, mit demokratischen Mitteln auf den Wandel hinzuwirken. Henrique Capriles, bislang einer der gemäßigten Köpfe der Opposition, ruft für diesen Mittwoch zum großen Marsch auf Caracas auf - notfalls auch bis zum Präsidentenpalast.

Maduro scheint die Drohung ernst zu nehmen. Nach einem Kurzbesuch bei Papst Franziskus in Rom sendete er Zeichen der Entspannung aus, seine Regierung will mit Teilen des zerstrittenen Oppositionsbündnisses in einen "nationalen Dialog" treten, der vom Vatikan moderiert wird. Zum Verhandlungschef wurde am Montag übrigens jener Jorge Rodríguez ernannt, der noch am Sonntag den Sturm aufs Parlament koordiniert hatte.

© SZ vom 26.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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