USA:Protest auf dem Fußboden

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Mit einem Sitzstreik will eine Gruppe von US-Demokraten schärfere Waffengesetze erzwingen. An ihrer Spitze: John Lewis, ein Held der Bürgerrechtsbewegung. Doch die Aussichten sind schlecht.

Von Nicolas Richter, Washington

Der Aufstand beginnt, als ein Mann mit kahlem Schädel ans Pult tritt und sagt: "Ich bitte alle meine Kollegen, sich mir im Plenarsaal anzuschließen." John Lewis sagt das ganz ruhig. Er klingt sogar melancholisch und blickt so ernst auf sein Pult, als stehe jetzt ein Ritual bei einem Begräbnis an. Lewis, 76, ein Abgeordneter aus dem Südstaat Georgia, kann wütend sein, aber er beherrscht auch den gravitätischen, würdevollen Auftritt. Es folgt an diesem Mittwochmorgen eine sehr ungewöhnliche Demonstration im US-Repräsentantenhaus: Mehr als hundert Abgeordnete versammeln sich zum Sitzstreik, verharren 26 Stunden auf dem Fußboden. Nach dem Terrorangriff in Orlando vor zwei Wochen mit 49 Toten möchten sie etwas erreichen, das in der US-Politik derzeit als so gut wie unmöglich gilt: Sie möchten schärfere Waffengesetze erzwingen.

Natürlich ist John Lewis der Anführer. Wer sonst würde zu einer Aktion aufrufen, die nach dem Protokoll im US-Kongress völlig ungehörig ist. Lewis ist ein Gigant der Bürgerrechtsbewegung, Proteste prägen sein Leben. Er hat sich nie gescheut, die Regeln infrage zu stellen oder der Staatsmacht zu trotzen. Im August 1963 rief er vor dem Lincoln-Memorial in Washington eine Revolution aus, bevor Martin Luther King seine "Ich habe einen Traum"-Rede hielt über eine Welt, in der Hautfarbe keine Rolle mehr spielt. Und als Lewis im März 1965 den berühmten Marsch über die Brücke von Selma anführte, hätten ihn Alabamas Staatspolizisten beinahe totgeschlagen. 40-mal war er im Gefängnis, unter anderem 2009, nachdem er vor der Botschaft des Sudan gegen den Massenmord in Darfur protestiert hatte.

Amerika hat sich geändert seit der Bürgerechtsbewegung: Im Weißen Haus regiert Barack Obama, der erste schwarze Präsident. Aber die Linke hat nicht alle ihre Vorstellungen durchsetzen können, und gegen nichts haben Obama und seine Demokraten so emsig - und vergeblich - angekämpft wie gegen die Waffenschwemme. Allein während der Amtszeit Obamas haben sich Massenmorde in einem Kino, in einer Grundschule, an einer Universität, in einer Kirche ereignet, immer waren die Täter schwer bewaffnet und entschlossen, so viele Menschen zu töten wie möglich. Orlando ist der jüngste und tödlichste Vorfall, wobei der Täter Omar Mateen der Bundespolizei FBI zuvor als mutmaßlicher Extremist aufgefallen war.

Mit der gleichen Regelmäßigkeit versuchen die Demokraten, das Waffenrecht zu verschärfen. Nach Orlando wollen sie im Abgeordnetenhaus zwei Gesetze zur Abstimmung stellen, die Terrorverdächtige daran hindern würden, Waffen zu erwerben. Versuche dieser Art enden allerdings immer mit dem gleichen Ergebnis: Im Kongress werden sie niedergestimmt, überwiegend von den Republikanern, die in beiden Kammern die Mehrheit stellen, aber auch von einzelnen Demokraten. Auf dieses Ritual reagieren die Befürworter strengerer Gesetze mit wachsendem Frust, und am Mittwoch entlädt sich dieser im Tumult.

Lewis wendet am Rednerpult seine ganze Redekunst auf, und sie ist gewaltig. "Wir haben Hunderttausende Menschen an Waffengewalt verloren, wann kommt der Wendepunkt?", ruft er. Dann legt er die Finger an die Stirn, als denke er nach, sagt leise: "Sind wir blind? Können wir sehen?" Sogleich aber ruft er wieder ins Plenum: "Wie viele Mütter und Väter müssen Tränen der Trauer vergießen, bevor wir etwas tun? Die Zeit für Ruhe und Geduld ist lange vorbei." Er fordert den republikanischen Speaker auf, neue Gesetzentwürfe wenigstens zur Abstimmung zu stellen. "Lassen Sie uns wählen. Lassen Sie uns unseren Job machen. Wir sind hier, um zu arbeiten."

Anschließend eskaliert die Lage. Dutzende demokratische Abgeordnete setzen sich auf den Fußboden und blockieren damit die Gänge zwischen den Sitzreihen. Sie halten Schilder hoch mit den Namen von Opfern oder singen Protestlieder wie "We shall overcome". Paul Ryan, der republikanische Speaker, bezeichnet die Aktion als "Showeinlage" und erinnert daran, dass die Gesetze ohnehin keinerlei Chance auf Verwirklichung haben, weil sie der Senat, die zweite Kammer, in ähnlicher Form bereits zuvor abgelehnt hatte. Ryan versucht vergeblich, wieder Ordnung herzustellen. Der Republikaner Louie Gohmert schreit den Demokraten entgegen, sie sollten statt über Waffengesetze lieber über "radikalen Islam" reden. Irgendwann lässt Ryan die Kameras abschalten, die das Geschehen im Saal nach draußen übertragen. Die Demokraten behelfen sich mit Periscope, einer App für Videoübertragung.

Als der Speaker die Kameras abschalten lässt, stellen die Abgeordneten Videos ins Netz

Die Machtprobe dauert die ganze Nacht. Am frühen Morgen kehrt Ryan zurück in den Plenarsaal. Er ignoriert die Protestierenden, lässt ein Budget verabschieden und vertagt dann alles Weitere auf den 5. Juli, wenn das lange Wochenende mit dem Nationalfeiertag vorüber ist. Die Republikaner verlassen das Kapitol. "Was denken die sich eigentlich?", fragt Nancy Pelosi, die Fraktionschefin der Demokraten. "Was auch immer es ist, sie wollen es niemandem erzählen. Deswegen machen sie sich mitten in der Nacht davon." Gleichzeitig lobt sie den Kampfgeist der Demokraten; ihr Protest sei "auf der ganzen Welt" gehört worden. Für die Partei ist diese Auseinandersetzung eine gute Gelegenheit, rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl Basis und Spender zu mobilisieren.

Ob sich deswegen die Waffengesetze ändern, ist sehr fraglich. Aber manche glauben, dass allein die Anwesenheit des alten Kämpfers John Lewis ein gutes Omen sein muss, und sie nennen den Parlamentsaufstand einen Wendepunkt, wie es einst die Demonstration auf der Brücke von Selma war. "Danke, dass ihr Ärger macht. Es ist guter Ärger", sagt Lewis zu seinen sitzstreikenden Kollegen. "Manchmal steht man auf, indem man sich setzt."

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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