Tunesien:Wiederkehr der Wut

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Zorn der Jugend: Straßenblockade in Medenine. (Foto: Fathi Nasri/AFP)

Fünf Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings schlägt in Tunesien erneut sozialer Frust in gewaltsamen Protest um. Bei Ausschreitungen gibt es Verletzte und einen Toten. Vor allem die Jugend rebelliert wegen fehlender Perspektiven.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Am 17. Dezember 2010 zündete sich in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid der Gemüseverkäufer Mohammed Bouazizi selbst an - er protestierte gegen die Willkür der lokalen Behörden, die seinen Verkaufswagen konfisziert hatten und ihm, der eine Familie zu versorgen hatte, die Lebensgrundlage raubten. Das war der Funke, der den Arabischen Frühling auslöste.

Am 16. Januar 2016 erlitt in Kasserine, einer anderen der verarmten Städte im Landesinneren, Ridha Yahyaoui einen tödlichen Stromschlag. Der 28-Jährige war aus Protest vor der Präfektur auf einen Strommast geklettert - sein Name war von einer Liste mit Personen verschwunden, die in den Staatsdienst eingestellt werden sollten. Seitdem kommt das Land nicht mehr zur Ruhe, lange aufgestaute Unzufriedenheit bricht sich Bahn.

Die Wirtschaft des Landes kommt nicht aus der Krise, vor allem der Tourismus leidet

In Kasserine gingen Hunderte auf die Straße, demonstrierten für mehr Arbeitsplätze. Reifen brannten, es flogen Steine, die Polizei schoss Tränengas. Im Laufe der Woche weiteten sich die Demonstrationen auf das ganze Land aus: Thala, Béja, Sidi Bouzid, Kairouan, Sfax, Medenine, el-Kef. Am Mittwoch erreichten sie Tunis. Präsident Béji Caïd Essebsi und die jüngst umgebildete Regierung unter Premier Habib Essid sehen sich der größten Welle sozialer Proteste gegenüber, seit Massendemonstrationen vor fünf Jahren zum Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali führten.

Schon Mittwoch und Donnerstag waren bei schweren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten 100 Menschen verletzt worden. Ein junger Beamter in Fériana wurde getötet. In der Nacht zum Freitag wurden in Tunis und anderen Orten Läden geplündert, Bankfilialen und Geldautomaten ausgeraubt. Auch wurden Brandanschläge auf Polizeiposten und Verwaltungsgebäude verübt. Im Arbeiterviertel Ettadhamen in der Vorstadt von Tunis lieferten sich Vermummte bis in den Morgen Straßenschlachten mit der Nationalgarde.

Die Regierung hat nun reagiert; das Innenministerium ordnete eine landesweite Ausgangssperre zwischen 20 Uhr und fünf Uhr morgens an. Polizei-Einheiten wurden durch das Militär abgelöst. Ein Sprecher des Innenministeriums warf Kriminellen vor, friedliche Proteste gegen die Regierung zu missbrauchen, andere vermuten radikale Islamisten als Unruhestifter.

Die Wirtschaft in Tunesien kommt nicht aus der Krise; der Tourismus leidet schwer unter zwei Anschlägen der Terrormiliz Islamischer Staat, bei denen überwiegend westliche Urlauber starben. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 15 Prozent, unter Jugendlichen ist sie doppelt so hoch. Betroffen sind auch viel junge Akademiker. Vor allem im Landesinneren fehlt es Jugendlichen an jeder Perspektive. Ein Regierungssprecher versprach, in der Region Kasserine 60 Millionen Euro für 1000 Sozialwohnungen zu investieren und 6000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der öffentliche Dienst und halbstaatliche Unternehmen sind nach wie vor die wichtigsten Arbeitgeber. Die Regierung hat Wirtschaftsreformen angekündigt, die Parteien haben sich aber lange in internen Querelen verzettelt. Nidaa Tounes, die von Essebsi gegründete Sammlungsbewegung und bislang stärkste Partei, hat sich jüngst gespalten. Essid hatte erst Anfang des Jahres sein Kabinett umgebildet. So ersetzte er den Innen- und Außenminister, zudem wurden 14 Posten abgeschafft, um die Regierung effektiver zu machen. Die islamistische Ennahda-Partei behielt ihren einzigen Kabinettssitz, das Arbeitsministerium.

© SZ vom 23.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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