Tunesien:Halbherziger Neuanfang

Mit einer Handvoll unerfahrener Idealisten lässt sich kein funktionierender Staat aufbauen. Doch wer einem skeptischen Volk zeigen will, was Demokratie ist, sollte nicht schon in der ersten Stunde wichtige Gruppen ausschließen.

Rudolph Chimelli

Tunesiens Staatsschiff schlingert noch im Sturm, und drei Regierungsmitglieder verlassen es schon wieder. Sie gehören dem Gewerkschaftsbund UGCT an, der mit diesem Rückzug seine politische Rolle für die Zukunft profiliert. An der Restauration des Systems Ben Ali unter der Regie der Leute von gestern wollen die Gewerkschaften nicht teilhaben. Sie können es auch ihrem Fußvolk, das die Last der Revolte gegen den Diktator trug und die Opfer brachte, nicht zumuten.

Die alte Garde wird nur scheinbar aussortiert: Mit einer Handvoll unerfahrener Idealisten aus Opposition und Emigration lässt sich kein funktionierender Staat machen. (Foto: dpa)

Als die Sowjetunion nach 70 Jahren zusammenbrach, gab es wenig Fachleute, die nicht in der Kommunistischen Partei waren. Tunesien ist nach einem halben Jahrhundert Einparteienherrschaft unter Bourguiba und Ben Ali in ähnlicher Lage. Mit einer Handvoll unerfahrener Idealisten aus Opposition und Emigration lässt sich kein funktionierender Staat machen, nicht sofort und wahrscheinlich noch lange nicht.

Allein die Zahlen machen deutlich, dass es ohne den existierenden Apparat nicht geht. Jeder zweite erwachsene Tunesier ist in der Staatspartei RCD, insgesamt 3,5 Millionen Menschen. Die Armee hielt Ben Ali mit 35.000 Mann klein, damit sie nicht zur unabhängigen Hausmacht neben den vier Mal stärkeren Polizeikräften werden konnte.

Diesem Dilemma zum Trotz hätten einige Fehler vermieden werden können. In der Koalitionsvereinbarung ließen sich die drei kleinen, seit langem legalen Oppositionsparteien darauf ein, dass der alt-neue Premier Mohamed Ghannouchi zwei wichtige Strömungen, die Ben Ali verboten hatte, von vornherein ausschloss: die Kommunisten und die Islamisten von An-Nahda.

Wer einem skeptischen Volk zeigen will, was Demokratie ist, sollte nicht schon in der ersten Stunde in die Gegenrichtung steuern.

© SZ vom 19.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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