Wahlen in der Türkei:Die fetten Jahre sind vorbei

Erdoğan hat sich seinen Wahlsieg teuer erkauft. Kapital und Köpfe werden weiter aus dem Land fliehen. Dazu kommt ein neues Risiko: ein Präsident außer Kontrolle.

Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Türkei hat gewählt, und die Wahlbeteiligung bricht mit fast 90 Prozent alle Rekorde. Auch das Ergebnis ist rekordverdächtig. Recep Tayyip Erdoğan konnte nach 16 Jahren an der Macht seine Siegesserie fortsetzen, die Opposition muss sich wieder einmal mit dem Gefühl begnügen, dabei gewesen zu sein. Diesmal mit einem Wahlkampf, der so kraftvoll und kreativ war, wie man das in der Türkei lange nicht gesehen hat. Aber gereicht hat das nicht für einen Machtwechsel.

Erdoğan hat den Türken in den vergangenen zwei Jahren nach einem blutigen Putschversuch - und auch schon davor - sehr viel zugemutet. Und doch vertraut eine konservative Mehrheit dem starken Mann der Türkei weiterhin.

Die wirksamste Parole der AKP lautete zuletzt: Es gibt keinen zweiten Erdoğan, das sollte wohl heißen: Wenn ihr mich nicht wählt, verliert ihr alles, was ihr in der Vergangenheit gewonnen habt. Einer konservativen Mittelklasse geht es heute weit besser als vor Erdoğans Regentschaft, sie ist mit ihm aufgestiegen und seine treueste Klientel.

Andere haben schon vor der Wahl mit den Füßen abgestimmt. Sie haben das Land verlassen oder ihr Geld ins Ausland gebracht, weil sie ihr Kapital oder auch ihren Kopf retten wollten. Es sind Menschen, die nicht möchten, dass ihre Söhne und Töchter in einem Land aufwachsen, in dem sie bei einer Studentendemo festgenommen werden können und danach in einem Gefängnis verschwinden. Es sind aber auch Unternehmer, die nicht in einem Land leben wollen, in dem der Rechtsstaat nur noch sehr eingeschränkt funktioniert, weil die Richter sich selbst vor der Regierung fürchten.

Nach der Niederschlagung des Putschversuchs bekam Erdoğan auch Applaus von der Opposition, dann aber begann der Präsident, sich an das Regieren mit Dekreten und Notverordnungen zu gewöhnen. Der Ausnahmezustand soll nun zwar bald beendet werden, das hat sogar Erdoğan vor der Wahl noch versprochen. Die Präsidialverfassung, die er der Türkei aufgedrückt hat, erlaubt dem Präsidenten jedoch, künftig auch ohne Notstand zu schalten und zu walten, wie er will, mit bis jetzt in der Türkei nicht gekannter Machtfülle. Das neue Regierungssystem könnte sich allerdings als Bumerang erweisen.

Denn wo die Kontrolle fehlt oder alle Angst haben, dem Mann an der Spitze die Meinung zu sagen, passieren Fehler. Die Verunsicherung wird anhalten, Kapital und Köpfe werden weiterhin fliehen, daran wird das Wahlergebnis nichts ändern. Der Verfall der Lira ist nicht nur hausgemacht, aber die politischen Zustände spielen eine große Rolle beim Vertrauen in eine Währung. Viele Unternehmen hat dies schon an den Rand der Zahlungsfähigkeit gebracht. Auch der Staat hat über seine Verhältnisse gelebt, er hat das Geld mit vollen Händen ausgeteilt, um die Wähler zufrieden zu stimmen.

Dieser Wahlsieg war teuer erkauft. Die Großzügigkeit lässt sich nicht fortsetzen, sie führt die Türkei in eine Schuldenkrise.

Dies war ein Wahlkampf mit ungleichen Chancen. Erdoğans AKP beherrschte fast alle Fernsehkanäle, auch die größten Zeitungen sind mittlerweile regierungsnah. Der Opposition blieben wenige kleinere Blätter und die sozialen Medien. Der Präsidentschaftskandidat der linken Kurden-Partei HDP musste seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen. Unter diesen Umständen ist das Ergebnis der Oppositionsbewerber achtbar.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: