Terror in Paris:Zugriff in Saint-Denis - vor dem nächsten Anschlag

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  • Anti-Terror-Einheiten der französischen Polizei stürmen am frühen Mittwochmorgen Wohnungen im Pariser Vorort Saint-Denis.
  • Der Einsatz gilt den Tätern der Anschläge von Paris am vergangenen Freitag.
  • Medienberichten zufolge kommt dabei der mutmaßliche Drahtzieher Abaaoud ums Leben.
  • Die Staatsanwaltschaft bestätigt lediglich, er befinde sich nicht unter den Festgenommenen.

Von Thomas Hummel und Christian Wernicke, Paris

Ymose Louis ist eine kleine Person. Sie spricht sehr schnell, sie gestikuliert, sie vibriert fast. "Ich habe schon Angst", sagt die 40-Jährige auf dem Platz Victor Hugo, direkt vor dem Rathaus und der großen Kathedrale von Saint-Denis. Eigentlich heißt es, dass alle in ihren Häusern bleiben sollen. Zu ihrer Sicherheit. "Aber ich wohne hier. Ich gehöre hier dazu, ich will wissen, was hier los ist."

Was los ist: Das Zentrum von Saint-Denis ist abgesperrt. Manche Bewohner wurden mitten in der Nacht von der Polizei aus den Häusern geholt. Die anderen haben sich zu Hause verschanzt. Ymose Louis hat am Morgen eine SMS bekommen von einer Freundin aus dem Zentrum. Sie schrieb: "Ich bin immer noch schockiert. Wir haben Angst und haben uns zusammen mit den Nachbarn in unserem Bad eingesperrt." Von dort hören sie die Explosionen.

Erst einzelne Schüsse, dann Salven aus automatischen Waffen

Gegen 4.20 Uhr fallen die ersten Schüsse. Aufgeschreckte Anwohner haben die Nerven, die Kriegsszenen mit ihren Handys aufzunehmen. Zu sehen ist wenig, aber man hört den Horror: erst einzelne Schüsse, dann Salven aus automatischen Waffen. Polizisten des Anti-Terror-Kommandos "Raid" huschen über die enge Rue de Corbillon in einen Hauseingang, Sekunden später weichen sie zurück. François Hollande, der Kriegspräsident, sitzt mit seinem Krisenkabinett im Élysée, er erhält minütlich Informationen.

Stunden später wird dem Staatsoberhaupt der Lapsus unterlaufen, zu sagen, die Spezialkräfte hätten zwar "die Gefahr gekannt, aber sie haben vielleicht die Gewalt unterschätzt, mit der sie konfrontiert wurden". Bernard Cazeneuve, als Innenminister der oberste Polizist Frankreichs, formuliert es geschickter: Seine Beamten seien brutalstem Beschuss ausgesetzt gewesen - "so wie wir ihn noch nie zuvor erlebt haben". Fünf Polizisten werden im Laufe des Einsatzes verletzt, keiner lebensgefährlich. Nur "Diesel", die Polizeihündin, wird später von den Beamten per Twitter betrauert: Gefallen, an der Heimatfront.

Mehr als eine Stunde dauert der Schusswechsel, die Sicherheitskräfte feuern mehr als 5000 Schuss ab. Ein Hubschrauber kreist über dem Viertel. Dann, gegen sechs Uhr, startet die Polizei eine zweite Angriffswelle. Ein Nachbar, der sich Christian nennt, hat es beobachtet. "Da war diese Frau, die plötzlich aus dem Fenster in der dritten Etage schrie: 'Hilfe, helft mir!'", erzählt der Augenzeuge. Die Polizei habe die Frau aufgefordert, die Hände hochzuhalten und sich zu zeigen - ohne Reaktion. "Dann fingen die Schüsse wieder an, die Polizisten haben vom Dach des Gebäudes gegenüber geschossen.

Es waren viele, viele Schüsse." Vermutlich stürmen in diesem Augenblick zugleich Raid-Beamte das enge Treppenhaus hinauf, mit einem Spürhund vorneweg. "Dann gab es diese enorme Explosion", sagt Christian, "das war wohl der Moment, als sich die Frau in die Luft gesprengt hat." In der ganzen Straße seien die Scheiben zersprungen. Eine andere Anwohnerin aus dem Nebenhaus erzählt später, sie habe sich im Badezimmer versteckt und sich über ihr Kind geworfen, als es knallte. "Das ganze Gebäude hat gezittert, mehrere Sekunden lang."

Die Mauern des Gebäudes werden später Risse zeigen, die Fenster sind weggesprengt. Wie nach einem Bombenangriff. Mit einer Bombe, die eine Frau trug. "Aus dem Fenster des Appartement ist allerlei Zeugs auf die Straße geflogen", sagt Christian, der Zeuge, "Auch menschliches Fleisch, auch ein Teil vom Kopf."

Die Ermittler suchen nach dem Drahtzieher der Anschläge

Der Krieg, oder wie auch immer man die Anschlagserie nennen will, war dorthin zurückgekommen, wo am vorigen Freitag alles begonnen hatte - nach Saint-Denis im Norden von Paris, dorthin, wo auch das riesige Stade de France steht, vor dessen Toren drei Attentäter ihre Sprenggürtel zündeten. Hier begann der Horror, der Paris zur "Märtyrer-Stadt" machte, so sagte es Präsident François Hollande.

Und hier, so glaubten die Ermittler am frühen Morgen, halte sich nun Abdelhamid Abaaoud versteckt, der Terrorstratege des IS und mutmaßliche Drahtzieher des Massenmords. Aus Polizeikreisen heißt es, man habe Telefonate seiner Cousine überwacht, die in Saint-Denis wohnt. Im Appartement hat sich noch mindestens ein Mann verschanzt, er wird offenbar durch einen Scharfschützen getötet. Die Explosion hat das Appartement dermaßen verwüstet, dass die Ermittler nicht sicher sind, wie viele Menschen hier gestorben sind: Mindestens zwei, vielleicht aber auch drei. Acht Personen nimmt die Polizei fest. Einer wird ohne Hose aus dem Haus gezerrt, die Beamten hatten Angst, er könne ebenfalls einen Sprenggürtel tragen. Zwei andere werden erwischt, als sie versuchen, sich im Bauschutt des Gebäudes zu verstecken. Ob der mutmaßliche Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud der Tote im Appartement ist, kann Frankreichs Generalstaatsanwalt François Molins auch am Abend noch nicht sagen. Nur so viel: "Zu den Festgenommen zählt er nicht." Aus Polizeikreisen verlautet, man habe Hinweise, dass die Verhafteten ein trainiertes Terror-Kommando gewesen seien. Und dass sie drauf und dran waren, neue Anschläge zu verüben: auf ein Einkaufszentrum im Pariser Hochhausviertel La Défense.

Und auf den Flughafen Charles de Gaulle draußen am Stadtrand. Der Morgen bricht an. Inzwischen zeigen Frankreichs TV-Sender den Krieg live im Frühstücksfernsehen. Eher zufällig gerät gegen 7.30 Uhr am Rande der Sperrzone von Saint-Denis ein Mann mit Designerbrille und akkurat gestutztem Backenbart vor die Kameras. Ja, die Polizei habe ihn herbeigerufen, "ich hab' eben erfahren, dass sich das alles bei mir zu Hause abspielt". Der Mann, etwa Ende 20, räumt ein, dass er einem Kumpel einen Gefallen getan und seine Bude "an zwei Leute, so für drei Tage" untervermietet habe: "Die stammten aus Belgien, aber ich wusste doch nicht, dass das Terroristen sind." Ein Polizist nimmt ihn fest, alles live.

Saint-Denis wirkt hier nicht wie eine Hochburg der Islamisten, wie so viele andere französische Trabantenstädte. Das Zentrum ist im Gegenteil ein Örtchen mit fünfstöckigen Häusern, Geschäften und Restaurants. Am Stadtrand, wo viele in Wohnblocks hausen, ist das allerdings anders. Die Anwohner im Zentrum berichten von plötzlichem Lärm, von Schüssen, Explosionen. Manche rannten zum Fenster, die Soldaten schrien hinauf, sie sollten bloß die Köpfe nicht herausstrecken.

Patrick Braouezec kommt trotzdem aus dem Rathaus. 14 Jahre war er hier Bürgermeister bis 2004, jetzt steht der Mann mit dem weißen Haar vor seinem alten Arbeitsplatz und verteidigt seine Stadt. "Man darf Saint-Denis nicht stigmatisieren", sagt er, "das hier ist ein allgemeines Problem." Bildung, Arbeitsplätze, Gemeinsinn - das müsse gefördert werden. "Wir müssen aufpassen, dass die jungen Leute nicht im Schatten der Gesellschaft verschwinden."

Das EM-Finale 2016 soll in Saint-Denis stattfinden

Diese Fragen werden bald von mehr Leuten gestellt werden. Und noch größere. Saint-Denis, das ist eben auch der Ort des französischen Fußball-Nationalstadions, wo im kommenden Jahr das EM-Finale stattfinden soll. Am Eingang der Fußgängerzone begrüßt schon jetzt ein buntes Spruchband die erwarteten Besucher in der Stadt.

Fußball - das klingt nach Unterhaltung, Freude und Spaß. Damit war es an diesem Mittwoch in dem Städtchen nördlich von Paris endgültig vorbei. Vor den Absperrungen im Stadtzentrum steht ein junger Mann mit Baseballkappe und Stöpseln im Ohr und führt ein Video-Telefonat mit einem Kumpel, filmt hinein in die Rue de la République: "Schau, das ist der Krieg. Hier ist die Armee." Er lachte dabei. Die Straße ist voll mit Feuerwehr, Krankenwagen und Polizisten.

Gegen Mittag schreitet dann der zuvor mit einem Autokorso eingetroffene Innenminister Bernard Cazeneuve zusammen mit seinem Gefolge dem Auflauf auf dem Platz Victor Hugo entgegen und erklärt den Einsatz staatsmännisch für beendet. Dabei haben die Scharfschützen um ihn herum den Finger am Gewehrabzug, blicken misstrauisch umher, auch in Richtung der umliegenden Häuser. Es ist noch nicht vorbei.

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(Foto: François Mori/AP)

Szenen des Ausnahmezustands: Polizisten bei der Razzia in Saint-Denis. Gesucht werden mutmaßliche Beteiligte der Anschläge vom Freitag.

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(Foto: Francois Mori/AP)

Bis zu 20 000 Anwohner sitzen in dem Vorort von Paris in ihren Wohnungen fest. Die Operation dauert etwa sieben Stunden.

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(Foto: Marc Piasecki/Getty Images)

Notärzte und Spezialkräfte warten in der "Rue de la Republique" auf ihren Einsatz.

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(Foto: Kenzo Triboulliard/AFP)

Die Razzia hatte gegen 4:20 Uhr begonnen. Die Verdächtigen verschanzten sich in einer Wohnung, Passanten mussten die Umgebung verlassen.

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(Foto: Benoit Tessier/Reuters)

Polizisten bringen Anwohner in Sicherheit, die aus den umliegenden Wohnungen fliehen konnten.

© SZ vom 19.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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