Flüchtlingslager Saatari:Dem Krieg entkommen, dem Moloch ausgeliefert

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Eine syrische Familie im Flüchtlingslager Saatari (Foto: AP)

Eine halbe Million Menschen aus Syrien sind nach Jordanien gekommen, die Situation in den Lagern ist katastrophal. Täglich strömen mehr in die Zelte, wo Menschenhandel herrscht und sich mafiöse Strukturen gebildet haben. Selbst die Absicht der Deutschen, 5000 Syrer aufzunehmen, würde eher zu mehr Konflikten führen als zur Entspannung beitragen. Wer soll die Flüchtlinge auswählen? Und wie?

Von Sonja Zekri, Saatari

Letztens stand eine Frau im Zelt der alten Mariam Mustafa, tat harmlos und war doch auffällig neugierig. "Habt ihr Bräute?", fragte sie, "habt ihr Mädchen im heiratsfähigen Alter?" Mariam, geistesgegenwärtig, entgegnete: "Bräute gibt's im Zelt nebenan." Die Kupplerin insistierte ein bisschen, aber Mariam Mustafa, 60 Jahre, geflohen aus der Provinz Deraa im Süden Syriens, gestrandet mit ihren 60 meist weiblichen Verwandten im jordanischen Flüchtlingslager Saatari, wusste, dass Jordanier, Saudis, Kuwaiter und wer nicht sonst noch auf Brautjagd sind unter den Flüchtlingsmädchen, und sie blieb hart. Die Kupplerin zog ab und Mariam ereifert sich noch heute: "Ja, sind wir denn Gemüse, dass man uns einfach kaufen kann?"

Das Leben in Saatari ist so hart und trostlos wie der staubige Wüstenboden, auf dem Tausende Zelte stehen, für Frauen ist es noch härter als für Männer. Es gab Entführungen, auch Menschenhandel. Jüngst brachen Unruhen aus, weil zwei Frauen heimlich aus dem Lager gebracht werden sollten und in eine Polizeikontrolle gerieten. Einer der jordanischen Beamten soll eine von ihnen berührt haben, der Mob zerrte einen Polizisten aus dem Auto und schlug ihn mit Steinen auf den Kopf. Der Mann lebt, aber er verlor ein Auge, und Saatari war um eine schlimme Geschichte reicher.

Mariam Mustafa kam vor acht Monaten, lief zu Fuß zur jordanischen Grenze, eine von 100.000 Menschen in Saatari und von einer halben Million syrischen Flüchtlingen in Jordanien. Sie ist eine der wenigen besonnenen Stimmen. Sie leidet mit allen Toten jenseits der Grenze, den Anhängern von Präsident Baschar al-Assad und seinen Gegnern, Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen.

Ein "Dritter Weltkrieg" werde in Syrien ausgetragen, klagt sie, befeuert von fremden Mächten auf dem Rücken ihres unglücklichen Volkes. Sie hat Blumenvorhänge für das Zelt genäht und Glitzerstoff über die Matratzen gezogen, sie verkauft Kleidung und verdient ein bisschen dazu, und ein Saudi hat ihr einen Fernseher geschenkt, sodass sie die Nachbarn mit Nachrichten versorgen kann. Ihr Sohn ist nach Syrien zurückgekehrt und kämpft mit den Aufständischen. Er kommt und geht - so wie viele Männer in Saatari. Mariam Mustafa ist dankbar für das, was sie bekommen hat, aber nun reicht das nicht mehr: "Saatari hat sich entwickelt, aber meine Situation ist die gleiche wie immer." Sie will mindestens einen der neuen Container, die nun im Lager aufgestellt werden: "Bald kommt der Ramadan, wie sollen wir fasten im Zelt bei diesen Temperaturen?"

Als Saatari im Juli entstand, sollte es 30.000 Menschen aufnehmen. Heute leben hier mehr als dreimal so viel, bei 1000 bis 3000 Neuankömmlingen pro Tag. Das World Food Programme (WFP) der UN verteilt pro Tag eine halbe Million Brote und alle zwei Wochen Pakete mit Zucker, Öl, Linsen, Bulgur, manchmal Bohnen und Süßigkeiten an die Familien. Schulkinder bekommen Kekse mit Vitaminen.

Schulen gibt es seit ein paar Monaten, die Mädchen lernen morgens, die Jungen nachmittags. Obwohl die Hälfte der Einwohner des Lagers unter 18 Jahren alt ist, gehen nur 7000 Kinder zur Schule. Viele sind aggressiv oder abwesend, leben in Gedanken noch immer im vergangenen Schrecken. "Sie singen Lieder gegen Baschar, aber wir versuchen, kindlichere Melodien anzustimmen, um sie auf andere Gedanken zu bringen", sagt eine Lehrerin. Das ist schwer in Saatari.

Auf der größten Piste im Lager ist ein Markt entstanden für Fleisch und Obst, Ventilatoren und Brautkleider zur Miete. Die Lagermafia kassiert 1000 Dollar für die Eröffnung eines neuen Ladens, sagt Kilian Kleinschmidt. Und das ist nur eines der Symptome für Saataris Grundproblem: "Es ist eine Stadt ohne Infrastruktur." Und Kleinschmidt, Feldkoordinator des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, ist ihr Bürgermeister. So nennt er sich.

Vorher arbeitete er in Islamabad und Mogadischu. Ein Picknick sei das gewesen, verglichen mit Saatari, wo es organisiertes Verbrechen gebe und Stromdiebe die Leitungen anzapften, wo fertige Küchen abmontiert und Menschen in Wassertanks aus dem Lager geschmuggelt werden: "Saatari ist berühmt für seine Gesetzlosigkeit." Er, Kleinschmidt, sei hier, um dies zu ändern. Deshalb will er mehr Polizisten einsetzen und das Lager in zwölf Distrikte einteilen, mit richtigen Straßen und Containern statt Zelten, um den Moloch Saatari beherrschbar zu machen. "Wir müssen diese Menschen vorbereiten für den Tag ihrer Heimkehr", sagt Kleinschmidt.

Aber die Heimkehr in ein befriedetes Syrien ist ein Termin, der mit jedem Monat in weitere Ferne zu rücken scheint. Saatari kostet eine Million Dollar am Tag. Das Geld der internationalen Gemeinschaft für das Essen der 100.000 Menschen reicht bis Ende Juni. Niemand weiß, was dann kommt, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Welt Saatari hängen lässt.

Eine Million Flüchtlinge auf sechs Millionen Einwohner

Solange sich weder Washington noch Brüssel, geschweige denn Moskau, Peking oder Teheran auf eine Lösung einigen, solange wird Syrien neue Flüchtlinge ausstoßen, solange werden Lager wie das in Saatari vor der Frage stehen, ob sie Nothilfe leisten oder dauerhafte Zustände schaffen. Im Nahen Osten und besonders in Jordanien ist dies nach Wellen auf Wellen palästinensischer, irakischer und sonstiger Flüchtlinge eine Frage höchster Brisanz. Bis Ende des Jahres könnten eine Million Syrer nach Jordanien kommen - bei sechs Millionen Einwohnern.

Im grenznahen Irbid sind inzwischen ganze Straßenzüge in der Hand syrischer Kämpfer. Die Wohnungsmieten steigen, das Wasser - ein rares Gut im ausgedörrten Jordanien - wird knapp. "Auf der Straße kommen auf jeden Jordanier zwei Syrer", spottet ein Friseur: "Viele Jobs gehen an Syrer, weil die billiger sind." Die anfangs aufrichtig mitfühlenden Jordanier wurden erst skeptisch, dann ablehnend in Bezug auf den neuen Nachbarn - auch wenn sich Ausfälle gegen Syrer noch immer in Grenzen halten. Aber Premierminister Abdullah Ensur hat die Provinzen im Norden jüngst offiziell zu "Notstandsgebieten" erklärt, um die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf das Schicksal seines Landes zu lenken. Und ein Parlamentarier machte den Vorschlag, Pufferzonen in Syrien zu errichten, um Jordanien zu entlasten.

Wie viele und welche Syrer soll Deutschland aufnehmen?

Hilft es Jordanien, wenn Deutschland - wie beabsichtigt - 5000 Syrer aufnehmen würde? Oder macht das, wie der selbsternannte Lager-Bürgermeister Kleinschmidt fürchtet, alles noch schlimmer? Er habe jüngst deutsche Politiker empfangen und versucht, deutlich zu machen, "dass dies nicht der Moment ist, um Erwartungen auf eine Reise ins glückliche Deutschland zu wecken", formuliert er spitz. Wer soll die Kandidaten auswählen? Sollen es, wie Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) erklärt hat, vor allem Christen sein, wo es kaum Christen im Lager gibt und die konfessionellen Spannungen unter den Syrern ohnehin groß sind?

Kleinschmidt hat den Effekt ähnlicher Versprechen in Kosovo erlebt, dort standen am Ende zwei Flüchtlingslager in Flammen. Jordanien habe wenig Verständnis dafür, ausgerechnet die Christen zu privilegieren, heißt es in Amman. Eine Delegation der deutschen Innenministerkonferenz sei nachdenklich wieder nach Hause gefahren.

Die alte Syrerin Mariam Mustafa aus dem Lager Saatari setzt keine Hoffnungen auf Deutschland. Dafür hat sie einen anderen Entschluss gefasst. Entweder sie und ihre Familie bekommen vor dem Ramadan einen Container, oder sie werde nach Syrien gehen, wie sie gekommen sei: zu Fuß.

© SZ vom 03.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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