Syrien:Zwischen den Fronten

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Tausende Flüchtlinge geraten in Syrien in die Schusslinie, seit der IS Dörfer zurückerobert. Die Türkei hält die Grenze geschlossen.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Zehntausende syrische Flüchtlinge sind im Grenzgebiet zur Türkei vor schweren Kämpfen aus ihren provisorischen Lagern geflohen. Das ergaben übereinstimmend Recherchen der Süddeutschen Zeitung und der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Der HRW-Experte Gerry Simpson sagte nach telefonischen Interviews mit Vorstehern von sechs der zehn Lager, es seien mindestens 30 000 Menschen vertrieben worden, die zuvor bereits vor Kämpfen rund um Aleppo geflohen waren. Drei der Lager mit zuvor 24 000 Insassen seien inzwischen komplett leer. Zwei Flüchtlinge aus dem Camp Ikdah berichteten HRW, türkische Grenzsoldaten hätten mit scharfer Munition vor ihre Füße geschossen, als sich etwa 2000 Syrer der neu errichteten Grenzmauer näherten.

Die Türkei hat seit Anfang 2015 ihre Grenze für Syrer weitgehend geschlossen und hatte sie auf syrischem Territorium notdürftig versorgt, nachdem sie Anfang des Jahres vor schweren Kämpfen in der Region Aleppo und massiven Angriffen der russischen Luftwaffe geflohen waren. Ende März starteten Rebellen-Einheiten und turkmenische Milizen mit Unterstützung der Türkei eine Offensive gegen weiter östlich gelegene Gebiete, die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrolliert wurden. Sie ist wie die Nusra-Front von der sonst in Syrien geltenden Waffenruhe ausgenommen. Seit Beginn der Woche eroberte der IS etliche Dörfer zurück. Dabei gerieten einige der provisorischen Flüchtlingslager zwischen die Fronten. Insgesamt sollen dabei drei Flüchtlinge getötet und mehrere verletzt worden sein.

Insassen aus zwei Lagern berichteten, IS-Kämpfer hätten sie per Lautsprecher aufgefordert, sich in östlich gelegene Gebiete in Sicherheit zu bringen, die der IS kontrolliert. Dort hätten sie nichts zu befürchten. Die Menschen hätten aber versucht, sich Richtung Norden über die türkische Grenze zu retten und seien später nach Westen ausgewichen. Ein Aktivist schickte Videoaufnahmen von mit Zelten und Wassertonnen beladenen Kleinlastern sowie Menschen, die sich zu Fuß auf die Flucht machten. Berichte türkischer Medien und der umstrittenen Hilfsorganisation IHH, wonach der IS gezielt Flüchtlinge attackiert habe, ließen sich dagegen nicht erhärten. Allerdings wurden mindestens in einem Camp zwei Kilometer von der Grenze entfernt Menschen durch Maschinengewehrfeuer von IS-Kämpfern verletzt.

Die Türkei hat wiederholt vorgeschlagen, auf syrischem Territorium eine Sicherheitszone für Flüchtlinge einzurichten. Die USA und andere westliche Staaten lehnen das ab, auch weil eine solche Zone kaum zu verteidigen wäre. Seit die Türkei im November ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hat, wäre eine Stationierung türkischer Truppen in Syrien sehr riskant.

Die Situation dürfte sich in den kommenden Tagen weiter zuspitzen

Menschenrechtler fordern, Ankara müsse sofort die Grenze öffnen, um den Menschen die Flucht vor den Kämpfen zu ermöglichen. Diese Verpflichtung lasse sich aus internationalem Recht ableiten, selbst wenn eine Schutzzone eingerichtet werde. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR äußerte sich nur zurückhaltend. Man sei besorgt über Berichte, dass Zivilisten von den Kämpfen betroffen seien, hieß es in Genf.

Die Situation dürfte sich in den kommenden Tagen weiter zuspitzen, denn auch um Aleppo selbst gibt es erneut schwere Kämpfe, die den Bestand der Waffenruhe und die Friedensgespräche in Genf gefährden. Einheiten, die loyal zu Regierung von Präsident Baschar al-Assad stehen, griffen am Donnerstag mit russischer Luftunterstützung Orte nördlich von Aleppo an. Sie versuchen, den Rebellen die letzte Hauptversorgungsroute Richtung Türkei abzuschneiden. Eine vollständige Blockade der Großstadt würde aller Wahrscheinlichkeit erneut Zehntausende in die Flucht treiben.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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