Syrien:Der IS verliert - und greift an

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Noch wird Falludscha von IS-Terroristen kontrolliert. Doch von der irakischen Regierung befehligte Truppen (im Bild) sind auf dem Vormarsch. (Foto: Ahmad Al-Rubaye/AFP)

Die Dschihadisten der Miliz Islamischer Staat werden im Irak und in Syrien zurückgedrängt. Doch für die Zivilbevölkerung bedeutet das keine Erleichterung: Die Zahl der Terroranschläge steigt.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ist in der Defensive - das ist die Botschaft, die derzeit gleichermaßen die USA und Russland verbreiten und die jeweils von ihnen unterstützten Regierungen im Irak und in Syrien. Sie verliert in beiden Ländern an Territorium, soviel ist sicher. Doch die Dschihadisten überziehen beide Länder mit Terrorwellen, die auf einen neuerlichen und möglicherweise auch nur vorrübergehenden Wechsel der Taktik weisen: Er soll militärisch Entlastung schaffen an jenen Fronten, an denen die Kämpfer des Kalifats zurückweichen mussten.

Bei einer Serie koordinierter Anschläge in Syrien sind am Montag laut Staatsmedien mindestens 78 Menschen getötet worden; nach Berichten von Aktivisten gab es sogar rund 150 Todesopfer. Der IS bekannte sich im Internet zu den Angriffen. Sie galten Busbahnhöfen und Taxiständen der Stadt Tartus und des Ortes Jableh in der Provinz Latakia; dort trafen die Selbstmordattentäter noch ein Krankenhaus und das Elektrizitätswerk. Die Region gehört zu den Hauptsiedlungsgebieten der Alawiten, einer schiitischen Minderheit, aus der die Familie von Präsident Baschar al-Assad stammt. Getroffen wurden vor allem Zivilisten und Gebiete, die von Angehörigen aller religiösen und ethnischen Gruppen frequentiert werden. Zugleich gingen die Bomben in gefährlicher Nähe zu russischen Militäreinrichtungen hoch: In Tartus bringt die Marine über einen kleinen permanenten Stützpunkt Nachschub ins Land. Und vom Flughafen Khmeimim fliegt die russische Luftwaffe; er liegt keine fünf Kilometer von Jableh entfernt. Für das Regime und Russland stellt sich die Frage, wie es dem IS gelingen konnte, unbemerkt in diese als gut gesichert geglaubten Gebiete einzudringen. Ziel des IS dürfte es zugleich sein, den ohnehin äußerst wackeligen Friedensprozess und die Waffenruhe in Syrien zu zerstören. Wo immer Chaos und Bürgerkrieg herrschen, hat die Terrormiliz die besten Chancen, ihre Schreckensherrschaft zu etablieren. In Irak versucht sie, einen neuen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten zu entfachen. Alleine in Bagdad ermordete der IS in den vergangenen zwölf Tagen bei Anschlägen mindestens 200 Menschen. Der IS suche nach Möglichkeiten, "wieder Schwung zu gewinnen, die Initiative zurückzuerlangen", sagte US-General Joseph Votel, der neue Kommandeur des für den Nahen Osten zuständigen Regionalkommandos der US-Streitkräfte während einer Reise in die Region. Die Anschläge in Syrien dürfte seine Einschätzung nur bestätigen. "Während wir verabscheuen, was der Islamische Staat tut, sollten wir ihn als Feind nicht unterschätzen, ebenso wenig wie seine Fähigkeit, sich an die Situation auf dem Schlachtfeld anzupassen, warnte er. Der IS hatte am Samstag in einer Audio-Botschaft seines Sprechers Abu Mohammed al-Adnani nicht nur zu Anschlägen in den USA und Europa aufgerufen, sondern Gebietsverluste heruntergespielt. Selbst wenn die selbstausgerufenen Hauptstädte Mossul im Irak und Raqqa in Syrien verloren gingen, bedeute dies nicht, dass er besiegt sei, sagte Adnani. "Eine Niederlage ist es nur, wenn wir die Überzeugung und den Willen zum Kampf verlieren." In Irak hat der IS nach US-Angaben 45 Prozent des Territoriums wieder verloren, das er einmal kontrollierte, in Syrien etwa 20 Prozent. Mit amerikanischer Unterstützung eroberten jüngst irakische Einheiten die Kleinstadt al-Rutba in der sunnitischen Provinz Anbar im Westen des Landes zurück. Der 20 000-Einwohner-Ort liegt an der Straße von Bagdad nach Amman; nun soll die 110 Kilometer entfernte Grenze nach Jordanien wieder geöffnet werden. Am Montag verkündete der zunehmend innenpolitisch in Bedrängnis geratene Premier Haidar al-Abadi zudem eine neue Offensive zur Rückeroberung von Falludscha, der ersten Großstadt, die der IS in Irak eingenommen hatte, im Januar 2014. Sie wird seit Monaten belagert, von Armee und Polizei, maßgeblich aber auch von schiitischen Milizen, von denen einige nicht auf Abadi hören, sondern auf Befehle aus Iran. Der Einsatz der Milizen dürfte die Sunniten in ihrer Ablehnung des irakischen Staates bestärken. Viele dieser irregulären Einheiten haben Rachemorde an Sunniten verübt und sie aus gemischt besiedelten Gebieten vertrieben. In Falludscha ist die Lage der geschätzt 60 000 bis 90 000 Bewohner katastrophal, sie hungern. Am Wochenende wurden Flugblätter abgeworfen, sie sollten Falludscha zu verlassen. Nun schießen irakische Einheiten die Stadt mit Artillerie sturmreif. Doch es gibt Berichte, dass der IS die Menschen daran hindert, zu fliehen. Die ebenfalls pompös angekündigte Offensive zur Rückeroberung Mossuls ist zum Stehen gekommen. Kaum jemand glaubt noch, dass es den Irakern gelingen wird, die zweitgrößte Stadt des Landes noch in diesem Jahr vom IS zu befreien. Einer der Gründe ist, dass immer wieder Einheiten abgezogen werden, um die Sicherheit von Bagdad zu gewährleisten.

Dabei ist bereits die Hälfte der irakischen Sicherheitskräfte in und um die Hauptstadt konzentriert; seit Beginn des Jahres bauen sie eine Mauer um Bagdad, um die Infiltration durch den IS zu stoppen. Für viele schiitische Politiker und für viele Bürger dieser Glaubensgruppe hat der Kampf gegen den IS in den sunnitischen Gebieten keine Priorität. Dazu kommt das politische Chaos in Bagdad; am Wochenende hatten Demonstranten erneut die Grüne Zone gestürmt.

In Syrien hat maßgeblich die russische Armee und regimetreue Milizen den IS aus Palmyra vertrieben. Russlands Präsident Wladimir Putin ließ für die Propaganda das von Valery Gergiev dirigierte Orchester des Mariinsky-Theaters einfliegen, um im Amphitheater der antiken Ruinenstadt die Befreiung zu zelebrieren. Die Vorstöße auf die Stadt Deir al-Sor dagegen, wo 120 000 Menschen vom IS belagert werden, waren weniger erfolgreich. Kurdische und arabische Milizen unter dem Namen Syrische Demokratische Kräfte bereiten mit US-Unterstützung derzeit eine Offensive auf Raqqa vor. US-General Votel hatte am Wochenende die 200 in Nordsyrien stationierten US-Militärberater besucht, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Da hatte er sich noch zuversichtlich gezeigt, dass der Kampf gegen den IS auf gutem Wege sei.

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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